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Nr. 110
Die Preußische Gesandtschaft München an das Auswärtige Amt, 20. Mai 1920
[Betrifft: Bayerische Situation vor den Wahlen.]
Die kommenden Wahlen werfen ihre Schatten voraus. Der größte Teil der Zeitungen wird von Wahlaufrufen und Berichten über Wahlversammlungen eingenommen und auch die sonstigen Nachrichten sind durch die Rücksicht auf die Mentalität der Wählerschaft beeinflußt. Bezeichnend für die hiesigen Verhältnisse ist es, daß im Mittelpunkt des Interesses die Wahlen zum Bayerischen Landtag stehen, während die Reichstagswahlen erst ganz in zweiter Linie kommen1. Bei der Bayerischen Volkspartei, die in Bayern die größte ist, im Reiche wahrscheinlich aber nur eine bescheidene Rolle spielen wird, ist das ja auch ganz verständlich, und der Bayerische Kurier hat von seinem Standpunkt aus vollkommen recht, wenn er sagt: „Von der Zusammensetzung des kommenden Bayerischen Landtages wird es abhängen, ob Bayern eine Regierung bekommt, die befähigt und gewillt ist, die Vollstreckerin eines föderalistischen Mandats zu sein und die Mission zu übernehmen, die dem Bayerischen Staat in dieser Epoche der deutschen Geschichte übertragen zu sein scheint.“
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Die Reichstagswahlen und die Wahlen zum bayerischen Landtag fanden am 6.6.20 statt.
[271] Die Nachrichten aus der Provinz sprechen ziemlich übereinstimmend von einem starken Anwachsen der bürgerlichen Stimmen. Hatte die Sozialdemokratie im alten Landtag etwa ein Drittel der Sitze, so wird sie sich im neuen wohl mit ungefähr einem Viertel begnügen müssen2. Von den bürgerlichen Wählern wird der größte Teil für die Bayerische Volkspartei stimmen. Über die Aussichten des Bauernbundes sind die Meinungen geteilt, Da seine Entradikalisierung immer weitere Fortschritte macht und er im kommenden Landtag, mit Ausnahme ganz bestimmter Gebiete, wohl meist mit der Bayerischen Volkspartei zusammengehen wird, ist es für die Beurteilung der Gesamtsituation ziemlich belanglos, ob einzelne Stimmen dem Bund oder der Volkspartei zufallen3. So wird auch der Kampf zwischen den beiden Parteien bisher in durchaus sanften Formen geführt. Die zugkräftigste Wahlparole ist ihnen ja beiden gemeinsam; das unflätige Schimpfen auf Berlin. Die Demokraten haben sich mit stiller Resignation darein ergeben, daß der 6. Juni ihnen eine Niederlage bringen wird4. Der Hauptteil ihres Verlustes wird wohl den Deutsch-Nationalen und der Deutschen Volkspartei zu gute kommen. Diese beiden Parteien, die bisher in Bayern nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hatten, haben sich neuerdings verbündet. Durch die Vermittlung des berüchtigten Verlages Lehmann haben sie die gut eingeführte und viel gelesene München-Augsburger Abendzeitung gekauft und treiben eine rege Wahlpropaganda, die sich auch rentieren wird5.
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Die SPD hatte im alten Landtag von 180 Sitzen 61 innegehabt, im neuen erhielt sie von 158 Sitzen 27 (USPD 20, vorher 3; KP 2).
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Die BVP erhielt 65 gegenüber bisher 66 Sitzen und der Bauernbund 12 gegen bisher 16 Sitzen.
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Die DDP kam auf 13 gegenüber vorher 25 Sitze.
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DNVP und DVP traten gemeinsam als Bayerische Mittelparteien auf und errangen 19 gegen bisher 9 Sitzen.
Über die Bildung der künftigen Koalition schweben bereits allerhand Kombinationen. Die verständigen Kreise der Bayerischen Volkspartei wünschen lebhaft, daß die Mehrheits-Sozialdemokraten nach den Wahlen wieder in die Regierung eintreten. So sagte mir kürzlich Dr. Heim, er habe bei einer Parteivorstandssitzung verlangt, daß den Sozialdemokraten alle Wege für die Wiederbeteiligung an der Koalition geebnet würden. Allerdings werde sie sich mit einem ihrem Stimmenverhältnis entsprechenden Anteil an den Ministersitzen begnügen müssen. Die Gruppe um Auer und Timm, Sänger und Endres wäre dazu wohl auch bereit. Es fragt sich aber, ob nicht, ähnlich wie im März, derjenige Flügel wieder die Oberhand behält, dem eine Oppositionsstellung bequemer ist. Für das Verhältnis zum Reich würde die Spaltung zwischen einem nicht bürgerlichen Norden und einem rein-bürgerlichen Bayern natürlich schwere Unzuträglichkeiten mit sich bringen. Vielleicht ließe sich im gegebenen Moment von Berlin aus ein Einfluß auf die hiesige Sozialdemokratie im Sinne einer Beteiligung an der kommenden Koalition ausüben6. Auch über die Person des künftigen Ministerpräsidenten wird schon viel gesprochen. Wenn die Wahlen wirklich so verlaufen, wie man jetzt allgemein annimmt, so wird es wohl ein Mitglied der Bayerischen Volkspartei werden. Nachdem Heim[272] nicht will und Held aus Gesundheitsrücksichten nicht kann, hofft man sehr, daß Herr von Kahr auch das neue Präsidium übernehmen wird. Vorläufig weigert er sich standhaft, da der Posten eines Regierungspräsidenten von Oberbayern erheblich angenehmer ist wie der eines Ministerpräsidenten. Vielleicht läßt er sich aber doch noch gut zureden. Vom Standpunkt des Reiches aus wäre ein neues Ministerium Kahr noch lange nicht das allerschlechteste7. Trotz seiner gelegentlichen Entgleisungen, die aber mehr auf Unerfahrenheit in politischen und parlamentarischen Dingen zurückzuführen sind, verfügt Herr von Kahr über eine Menge ganz ausgezeichneter Eigenschaften und bietet die Gewähr gegen das Überhandnehmen des Ultra-Separatismus um jeden Preis8.
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Die SPD blieb in Bayern bis zum Ende der Weimarer Republik in der Opposition.
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Kahr wurde am 16. 7. wiederum zum Ministerpräsidenten gewählt. Sein Kabinett war eine Koalition aus BVP, DNVP, Bauernbund und DDP.
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Von einer Reise, die Kahr nach Berlin unternommen hatte, berichtete Graf Zech am 26. 5., der bayer. MinPräs. habe aus seinen Gesprächen mit RPräs., RK, RAM und PrMinPräs. „die besten Eindrücke“ gewonnen und wolle gegen die gegen Berlin in Süddeutschland umlaufenden „albernen Gerüchte“ in Zukunft Stellung nehmen. Zech bemerkte dazu: „Ich hoffe, die Erfahrungen, die Herr von Kahr in Berlin gemacht hat, werden ihn veranlassen, die einem jeden Alt-Bayern innewohnende Scheu gegen Reisen nach Berlin zu überwinden und öfter hinaufzufahren“ (R 43 I/2213, Bl. 70).
gez. Zech