2.85 (mu11p): Nr. 85 Staatssekretär Bergmann an Staatssekretär Schroeder. Paris, 8. Mai 1920

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Nr. 85
Staatssekretär Bergmann an Staatssekretär Schroeder. Paris, 8. Mai 1920

R 43 I /401 , Bl. 199-203 Abschrift in Durchschrift1

1

Das Schreiben wurde von StS Schroeder am 12. 5. StS Albert zugeleitet; dieser verfügte am 14. 5. Vortrag beim RK durch RegR Kempner (R 43 I /401 , Bl. 199-203, hier: Bl. 199).

[Betrifft: Vorbereitung der Konferenz von Spa.]

Lieber Herr Schroeder.

Gestern besuchte ich den belgischen Delegierten in der Reparationskommission Herrn Bemelmans, um über die Kohlenfrage zu sprechen2. Er brachte das Gespräch zunächst aber auf die allgemeine Lage, vor allem die große Frage der Entschädigungssumme. Sehr bald kam auch Herr Theunis, der erste belgische Delegierte in der Reparationskommission, hinzu. Von beiden habe ich Mitteilungen erhalten, die mir höchst wichtig erscheinen. Ich will sie kurz zusammenfassen:

2

Zur Kohlenfrage s. C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 48 f., und Dok. Nr. 139.

1. Nach Ansicht der Belgier ist es sehr wahrscheinlich, daß die Konferenz[204] in Spa bis nach den deutschen Wahlen verschoben wird3, weil man einsieht, daß mit einer Regierung, deren Bestand von dem Ausfall der Wahlen abhängt, über so wichtige Dinge nicht mit der nötigen Sicherheit und Gründlichkeit verhandelt werden kann. Wenn also die deutsche Regierung ernsthaft die Verschiebung beantragt, wird man dem entsprechen.

3

Die RT-Wahlen waren auf den 6.6.20 angesetzt worden.

2. Mein Eindruck, den ich auch in Berlin bei der Besprechung mit dem Kanzler erwähnte, daß die Alliierten die bekannte Vorschlagsfrist von 4 Monaten doch dem Wortlaut des Protokolls gemäß von der Zeichnung und nicht von dem Inkrafttreten des Friedensvertrages ab rechnen, hat sich bestätigt4. Die Belgier sagten mir, man habe angenommen, Deutschland habe absichtlich in einer Art von désintéressément die 4 Monate verstreichen lassen, ohne Vorschläge zu machen. Die Reparationskommission habe sich schon den Kopf zerbrochen, wie sie die nach ihrer Ansicht abgelaufene Frist von 4 Monaten wieder aufleben lassen könne. Schließlich habe man sich gesagt, man solle Deutschland einfach kraft der allgemeinen Befugnisse der Reparationskommission auffordern, derartige Vorschläge zu machen, wie sie in der Antwortnote der Entente vom 16. Juni 1919, im Friedensprotokoll, in den Erklärungen der Londoner Wirtschaftskonferenz und der Besprechung von San Remo vorgesehen seien. Man will durchaus derartige Vorschläge von uns haben, weil ohne solche Mitarbeit der deutschen Regierung und der Sachverständigen die Reparationskommission einfach nicht vorwärts kommt. Ich habe natürlich sofort die Gelegenheit ergriffen, um den Sachverhalt klarzustellen, insbesondere habe ich auf die Erklärung Loucheurs Ihnen gegenüber im Juli hingewiesen. Davon wußte man auf der anderen Seite nichts. Um die Sache klar zu stellen, habe ich heute aus Anlaß der dem Präsidenten der Friedenskonferenz übersandten Note über den gleichen Gegenstand das abschriftlich anliegende Schreiben an die Reparationskommission gerichtet5.

4

Das Protokoll der Chefbesprechung vom 28. 4. (Dok. Nr. 70) enthält keine derartigen Ausführungen Bergmanns. Eine andere Besprechung, an der der RK und Bergmann teilnahmen, wurde nicht ermittelt.

5

In diesem Schreiben heißt es: „In dem Protokoll zum Friedensvertrag vom 28.6.19 ist gesagt worden, daß die Frist, innerhalb deren Deutschland die Möglichkeit haben soll, der Prüfung der alliierten und assoziierten Mächte Dokumente und Vorschläge zu unterbreiten, welche dazu dienen, die Arbeit der Wiedergutmachung abzukürzen, vier Monate von der Zeichnung des Vertrages ab läuft. Dies steht in einem gewissen Widerspruch mit der Bestimmung am Schluß des Friedensvertrags selbst, welche besagt, daß für die Besprechung aller Fristen, die in dem Vertrage vorgesehen sind, als Zeitpunkt des Inkrafttretens der Tag der Errichtung des ersten Protokolls zu gelten hat. Die deutsche Regierung hat im Juli 1919 gelegentlich von Besprechungen in Versailles an Minister Loucheur über diesen Punkt eine Anfrage gerichtet. Minister Loucheur hat erklärt, daß auch die Frist der vier Monate von der Errichtung des ersten Protokolls an laufen.“ Da das erste Protokoll am 10.1.20 gezeichnet sei, laufe die Frist am 10. 5. ab. Er, Bergmann, habe dies mitgeteilt, weil der Umstand nicht allen Vertretern der alliierten Mächte bekannt zu sein scheine „und sich die Meinung vorfindet, als sei die Frist von vier Monaten bereits seit längerer Zeit abgelaufen, ohne daß Deutschland von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht habe“ (R 43 I /401 , Bl. 204).

3. Die belgischen Vertreter glauben nicht, daß in Spa in Bezug auf die finanziellen Fragen irgend etwas Praktisches herauskommt. In Übereinstimmung mit den amerikanischen, englischen und italienischen Mitgliedern der[205] Reparationskommission wünschen sie, baldmöglichst zur Festsetzung eines globalen Betrages zu gelangen, der die gesamte finanzielle Entschädigungspflicht Deutschlands darstellt. Sie stoßen sich, wie bekannt, noch an dem Widerstand Frankreichs, und sie geben offen zu, daß es die Richtung Foch– Poincaré ist, welche in Beherrschung der öffentlichen Meinung Frankreichs diese Schwierigkeiten bereitet. Sie glauben jedoch, daß es im Laufe der Zeit und mit Hilfe eingehender Aussprache mit deutschen Vertretern gelingen wird, die Franzosen von ihren Traumgebilden herunterzuholen6. Der finanzielle Vertrauensmann der Reparationskommission ist Theunis; er hat als solcher auch an der Besprechung in San Remo teilgenommen. Theunis hat sich mir in offener Weise für Besprechungen angeboten, welche den Boden für die Lösung dieses schwierigen Problems vorbereiten sollen. Er und Bemelmans hatten gerade von amerikanischer Seite erfahren, daß Max Warburg und Dr. Melchior mit der Ausarbeitung von Vorschlägen für die Festsetzung der deutschen Schuld beschäftigt seien. Sie waren davon überrascht und erfreut. Ihre Hoffnung ist, daß die amerikanischen Finanzbeziehungen gerade dieser deutschen Bankfirma herangezogen werden können, um das deutsche Zahlungsversprechen dergestalt zu finanzieren, daß vor allen Dingen den Franzosen durch sofortige Bereitstellung großer amerikanischer Kredite geholfen werden kann. Die beiden Herren gaben offen zu, daß dies außerordentlich schwierige Fragen seien, sie machten aber allerhand Andeutungen, wie sie sich solche Möglichkeiten verwirklicht denken könnten. Es schwebt ihnen vor, daß auch jetzt noch ein Finanzvorschlag erwogen werden könne, wie er seinerzeit von der deutschen Finanzkommission in Versailles aufgestellt worden sei7. Auf meinen Einwand, daß dieser Vorschlag seinerzeit ganz bestimmte wichtige Bedingungen zur Voraussetzung gehabt habe, die jetzt weggefallen seien, meinten sie, es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß sich die neuen deutschen Vorschläge an gewisse lebenswichtige Bedingungen anknüpften, die sogar eine Änderung des Friedensvertrages involvieren könnten. Dabei blieben sie auch trotz meines Erstaunens über dieses merkwürdige Zugeständnis von Mitgliedern der Reparationskommission. Theunis hat mich sodann direkt eingeladen, aus der bisherigen Reserve im Verkehr mit der Reparationskommission, die ja auch richtig und taktvoll gewesen sei, mehr herauszutreten und gerade auf diesem finanziellen Gebiete ruhig mit Anregungen zu kommen, die schließlich doch einmal zu einer Verständigung führen müßten. Dabei hat er auch ganz offen zum Ausdruck gebracht, daß ich das Vertrauen der ganzen Reparationskommission besitze8.

6

Über die frz. Zahlungserwartungen s. Dok. Nr. 50 und 70.

7

Damit ist wohl der deutsche Vorschlag gemeint, 100 Mrd. Goldmark zu zahlen, der jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufrecht erhalten wurde. S. dazu Anm. 2 zu Dok. Nr. 50.

8

Über die Beziehungen zwischen der deutschen Kriegslastenkommission und der alliierten Reparationskommission s. C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 49.

Aus der Unterhaltung ist mir klar geworden, daß die Reparationskommission nicht daran denkt, die Lösung des Finanzproblems, die ihr im Friedensvertrag aufgetragen ist, aus der Hand zu geben und etwa dem Obersten Rat[206] der Alliierten zu überlassen. Nach der Meinung der belgischen Herren soll die Besprechung in Spa nur dazu dienen, eine direkte Fühlungnahme und ein besseres Verhältnis mit der deutschen Regierung herzustellen, ohne an den Aufgaben der Reparationskommission etwas wesentliches zu ändern. Wir müssen also damit rechnen, daß die eigentlichen Finanzverhandlungen im Schoße der Reparationskommission weitergeführt werden und daß etwaige deutsche Vorschläge, die in Spa gemacht werden, an sie zur Bearbeitung weitergehen. Hier wird uns nun vorsichtig tastend eine Hand entgegengestreckt, die wir meines Erachtens nicht zurückweisen dürfen. Die Beratungen in Berlin haben klar gezeigt, daß wir bisher ganz im Dunkeln tappen, was die Möglichkeiten einer Verständigung mit der Gegenseite angeht. Bei den Gegensätzen innerhalb des Kreises der deutschen Sachverständigen selbst wird es nicht einmal möglich sein, der Konferenz in Spa einen Vorschlag zu unterbreiten, welcher einer einheitlichen deutschen Auffassung entspringt9. Das liegt eben daran, daß jeder Sachverständige sich von der Haltung der Gegenseite seine eigene besondere Vorstellung macht. Ob die Fortsetzung der Besprechungen mit Theunis und mit den sonstigen Mitgliedern der Reparationskommission uns praktisch sogleich ein Stück weiterbringt, ist ungewiß. Immerhin darf die Gelegenheit nicht versäumt werden.

9

Die unterschiedlichen Ansichten der deutschen Sachverständigen, auf die sich Bergmann hier bezieht, werden verdeutlicht durch die Einwände von Wiedfeldt, Simons und Stinnes gegen die erste Fassung der Denkschrift Rosenbaum-Hasselmann (s. Anm. 3 zu Dok. Nr. 70). Der Schwerindustrielle Paul Reusch vertrat in einem Telegramm vom 8. 5. an Hasselmann die Ansicht: „Deutschland muß unter allen Umständen eine mehrjährige Erholungspause haben, um sein Wirtschaftsleben wieder in geregelten Gang zu bringen, bevor es leistungsfähig wird. Infolgedessen ist zu fordern, daß für etwa drei Jahre keinerlei Beträge an die Entente abzuführen sind. Wird dies zugestanden, dann können die später jährlich zu leistenden Raten umso höher bemessen werden“ (R 2 /2727 , Bl. 138 f.). Walther Frisch, Direktor der Dresdner Bank, meinte, daß die Denkschrift zwar einen guten Einblick in die wahre Lage der deutschen Wirtschaft gewähre, erklärte dann aber: „Trotzdem glaube ich, daß die Denkschrift, wenn sie ohne eine einführende Mantelnote vorgelegt wird, die in kurzen Strichen die wesentlichen Resultate und Postulate enthält, ihre Wirkung verfehlen wird. Die Ententevertreter können erst nach längerem Studium sich mit dem Inhalt vertraut machen. Die Öffentlichkeit bzw. die durch die Entente unterrichtete Öffentlichkeit wird leicht durch willkürliche Zitate aus der Denkschrift in die Auffassung versetzt werden können, als ob wir das Spiel der Hinterhältigkeit, welches uns bekanntlich zu Unrecht und aus agitatorischen Gründen fortgesetzt vorgeworfen wird, weiter trieben“ (Schreiben an UStS Schroeder von 8.5.20; R 2 /2727 , Bl. 140). In eine ähnliche Richtung geht auch die erst am 11.5.20 geäußerte Vorstellung des Geh.Baurat A. v. Rieppel, der an das RFMin. schrieb: „Ich gestehe ferner ganz offen, daß ich den Friedensvertrag für unerfüllbar halte und mir von den an sich gewiß sehr verdienstvollen Bemühungen und Vorstellungen, die auf ihn Bezug haben, leider nicht viel versprechen kann“ (R 2 /2727 , Bl. 147). S. dazu auch DBFP 1st ser. vol. X, p. 250.

Es fragt sich nun, was zu tun ist. Verkehrt wäre es, jetzt etwa eine Reihe von Finanzsachverständigen mehr oder weniger offiziell nach Paris kommen zu lassen. Damit wäre der zarte Keim der Annäherung sogleich erstickt. Meine gestrige Besprechung war ganz vertraulich, sie muß auch weiter so behandelt werden. Die Öffentlichkeit darf nichts davon wissen; die Zeitungen dürfen nichts davon erfahren. Das ist aber nicht zu vermeiden, wenn die Sache in Berlin zum Gegenstand von Besprechungen gemacht wird. Auf der anderen Seite bin ich nicht imstande, hier ganz allein diese Besprechungen weiterzuführen[207] und die Verantwortung für den Ausgang zu tragen. Ich schlage Ihnen deshalb vor, den Finanzminister und den Kanzler ganz persönlich von dem Inhalt dieses Schreibens zu verständigen und Herrn Dr. Melchior zu bitten, sich mit dem dort vorbereiteten Material sogleich in aller Stille nach Paris zu begeben, um mit mir gemeinsam auf der gegebenen Grundlage weiter zu arbeiten. Zu Dr. Melchior habe ich das Vertrauen, daß er die Sache diskret und taktvoll behandelt. Jeder zweite Sachverständige, der mitkäme, würde die Aufgabe erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Bitte telegraphieren Sie mir umgehend, ob Sie mit meiner Anregung einverstanden sind und ob Herr Dr. Melchior bereit ist, schleunigst auf einige Zeit hierher zu kommen. Wenn dies geschieht, hoffe ich, daß wir für die Besprechung in Spa viel besseres Rüstzeug zur Hand haben, als dies sonst möglich sein würde10.

10

Hierzu notierte RegR Kempner auf der ersten Seite des Schreibens, in einer Besprechung am 20. 5. mit StS Schroeder und MinDir. v. Simson sei beschlossen worden, Melchior solle vorläufig in Berchtesgaden bleiben. Komme er danach nach Berlin, „soll ihm freigestellt werden, nach Paris zu gehen, aber privatissime, um nach Möglichkeit Informationen zu erhalten.“

Mit besten Grüßen

Ihr

gez. Bergmann

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