Text
[299] Nr. 122
Das Auswärtige Amt an den Reichswehrminister. 31. Mai 1920
[Betrifft: Schutz des Abstimmungsgebiets in Ost- und Westpreußen.]
Bei der Entwicklung der Verhältnisse im Osten muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die Polen versuchen, sich die Abstimmungsgebiete in Ost- und Westpreußen im Falle einer für sie ungünstigen Abstimmung mit Gewalt anzugliedern1. Sie hoffen, hierbei der stillschweigenden Unterstützung der Franzosen sicher zu sein, und glauben wohl auch, daß die übrigen alliierten Mächte sich mit einer etwa vollzogenen Tatsache in gleicher Weise wie in der Provinz Posen abfinden werden. Von den Polen sind besonders in den Grenzbezirken der Abstimmungsgebiete Stoßtrupps (Bojowka’s) gebildet worden, die Unruhen hervorrufen sollen. Sollte dies gelingen, so würden die Polen versuchen, Hilfe von jenseits der Grenze zur Unterstützung ihrer angeblich vergewaltigten Volksgenossen herbeizuholen und das Land militärisch zu besetzen2.
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Über die Situation in den Abstimmungsgebieten hatten der Rkei und – von ihr weitergeleitet – dem AA Berichte des Abgeordneten Fleischer vorgelegen, der am 26. 4. und 1. 5. vor polnischen Absichten, in das Abstimmungsgebiet einzumarschieren, gewarnt und den Einsatz von Truppen der Reichswehr verlangt hatte (R 43 I/379, Bl. 109-11, 119-121). Am 6.5.20 hatte in Königsberg eine Besprechung beim OPräs. stattgefunden, in der nicht nur die mögliche Bedrohung durch Polen, sondern auch durch russ. Truppen bei einer erfolgreichen Offensive der sowjetischen Armee gegen Polen behandelt worden war (R 43 I/1848, Bl. 49-51). Auf diese Gefahr wies auch der Reichs- und StKom. Borowski den PrMinPräs. am 19. 5. hin, der den Bericht Borowskis am 5. 6. der Rkei zur Kenntnis brachte (R 43 I/1848, Bl. 128, 129-133).
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Fleischer hatte auf Grund eines poln. Zeitungsartikels mitgeteilt, daß „die Polen beim Vertreter der interalliierten Kommission in Allenstein, Oberst Bennett, die Forderung nach einem Schutz von Gut und Land der daselbst wohnenden polnischsprachigen Bevölkerung erhoben haben“ (1.5.20; R 43 I/379, Bl. 119-121, hier: Bl. 119). Anläßlich der Besprechung in Königsberg am 6. 5. war berichtet worden, im Abstimmungsgebiet seien von den Polen Gruppen mit dem Zweck gebildet worden, „Versammlungen zu stören, um dadurch Ereignisse hervorzurufen, welche den Vorwand für ein Einschreiten geben könnten. Es bestehe der dringende Verdacht, daß diese Stoßtrupps auch dazu dienen sollten, bei einer für die Polen ungünstigen Abstimmung die Abstimmungsgebiete gewaltsam zu besetzen. Hinzu komme, daß an den Grenzen der Abstimmungsgebiete schon seit geraumer Zeit Truppenbewegungen im Gange seien, die zum mindesten Verschiebungen auffälliger Art, wenn nicht verschleierte Anhäufungen darstellten. Es werde von den Polen geflissentlich verbreitet, daß sie sich die Abstimmungsgebiete gewaltsam holen wollten. Die Stimmung dort sei beiderseits außerordentlich gereizt. Der RKom. hege die starke Befürchtung, daß hierdurch der von den Polen erwünschte Vorwand für gewaltsame Handlungen in Kürze gegeben sei. Die Gefahr liege nahe, daß diese sich dann nicht auf die Abstimmungsgebiete beschränken, sondern auf den unbesetzten Teil der Provinz übergreifen würde“ (R 43 I/1848, Bl. 49-51).
Solange sich die Interalliierte Kommission in den Abstimmungsgebieten befindet, dürften keine Unruhen eintreten, wohl aber muß damit gerechnet[300] werden, sobald die Kommission abrückt3. Auch könnten seitens der sehr erregten Bevölkerung Gewalttätigkeiten gegen polnische Bewohner erfolgen.
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Oberst Bennett hatte in einem polnischen Einmarsch im Abstimmungsgebiet eine Kriegshandlung gesehen. Daraus war von dem Abgeordneten Fleischer geschlossen worden: „Er gibt damit zu, daß Deutschland berechtigt wäre, die Reichswehr in die Abstimmungsbezirke einrücken zu lassen, falls die Polen ihre wahnwitzigen militärischen Absichten verwirklichen wollten“ (R 43 I/379, Bl. 119-121, hier: Bl. 120). Das AA bat am 10. 6. den RK dem Abgeordneten hierzu mitzuteilen: „Solange sich die Interalliierten Kommissionen in den Abstimmungsgebieten befinden, wird es ihre Aufgabe sein, jede Verletzung des Friedensvertrages zu verhindern. Ich glaube auch, daß die Interalliierten Kommissionen sich dieser Aufgabe entledigen werden. Sollten sie die Hilfe deutscher Streitkräfte bedürfen, so können sie der Bereitwilligkeit der RReg., sie zu unterstützen, sicher sein“. Weiter sollte Fleischer mitgeteilt werden: „Ein etwaiger polnischer Einmarsch während oder nach dem Abzug der Interalliierten Truppen wird sie [RReg.] nicht überraschen; sie wird alle Vorkehrungen treffen, um die Bevölkerung der Abstimmungsgebiete davor zu sichern, daß sie gewaltsam dem polnischen Reiche entgegen ihrer durch die Abstimmung kundgegebenen Willensmeinung einverleibt werden“ (R 43 I/379, Bl. 164).
Der Schutz der Deutschen gegen polnische Umtriebe und Einmarschgefahren, sowie der Schutz der Polen gegen die aufgebrachte deutsche Bevölkerung verlangen für die Zeit des Abzuges der Interalliierten Kommission (voraussichtlich im Monat August) rechtzeitige Sicherheitsmaßnahmen durch deutsche militärische und polizeiliche Streitkräfte. Da nicht übersehen werden kann, ob die telegraphische und telephonische Verbindung zwischen Ost- und Westpreußen einerseits und dem Reiche andererseits aufrecht erhalten werden wird, oder ob es den Polen gelingt, diese zu unterbrechen4, muß für alle Fälle einheitliches Handeln, sowie engstes Einvernehmen zwischen den beiden deutschen Abstimmungskommissaren, dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen und dem Wehrkreiskommando I gesichert sein.
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Die Problematik der Verbindungen zwischen dem Reich und Ostpreußen war offenkundig geworden, als von Polen der gesamte Verkehr zwischen ihnen vom 16. 4.–26. 4. unterbrochen worden war. Bei den Erwägungen des RWeM spielte diese Möglichkeit gleichfalls eine Rolle, wobei der RWeM allerdings annahm, es werde kaum gelingen, den Funkverkehr zu unterbinden (RWeM an AA, 15.5.20; R 43 I/1848, Bl. 69). Auch der Reichs- und StKom. Borowski sprach in seinem Bericht an den PrMinPräs. vom 19. 5. von den polnischen Verkehrsbehinderungen und meinte sogar: „In Bezug auf Truppenersatz und Materiallieferung wäre Ostpreußen auf sich selbst angewiesen. Ein Nachschub auf dem Landwege oder über See ist ausgeschlossen“ (R 43 I/1848, Bl. 129-133, hier: Bl. 133). Der PrMinPräs. machte am 5. 6. den RK darauf aufmerksam, daß für den Nachschub an Truppen nur der Seeweg in Frage komme, wobei aber Mangel an Schiffsraum herrsche. „Es erscheint mir aber dringend geboten, schon jetzt durch Vereinbarung mit den Reedereien Vorsorge zu treffen, daß eintretenden Falles eine möglichst große Truppenmenge mit möglichster Beschleunigung nach Ostpreußen befördert werden kann“ (R 43 I/1848, Bl. 128).
Die Oberste Gewalt muß bei der höchsten Zivilbehörde, d. h. dem Oberpräsidenten, zentralisiert sein. Das Wehrkreiskommando I ist ihm für diese Ausnahmefälle zu unterstellen. Zu Maßnahmen in den Abstimmungsgebieten bedarf aber der Oberpräsident des Einverständnisses des betreffenden deutschen Bevollmächtigten, da nur dieser in der Lage sein kann, die Zweckmäßigkeit deutscher Gegenmaßnahmen in den Abstimmungsgebieten zu überblicken. Der Oberpräsident wird aber seinerseits den Wünschen der beiden Reichskommissare nach Möglichkeit zu entsprechen haben.
Ich vermag dem Vorschlage des Reichswehrministeriums nicht beizutreten, in Ostpreußen ein Direktorium aus 3 Personen – dem Oberpräsidenten,[301] dem Befehlshaber des Wehrkreiskommandos I und dem Präsidenten des Provinziallandtages – zu bilden, an das sich die diesen unterstellten Reichs- und Staatskommissare in den Abstimmungsgebieten zu wenden hätten, und das in allen politischen und militärischen Fragen zu entscheiden haben würde5. Ich halte es vielmehr für zweckmäßig, daß eine einzige zivile Stelle, welche das volle Vertrauen der Reichsregierung genießt, in diesem außerordentlichen Falle auch außerordentliche Machtbefugnisse erhält. Als diese Stelle kann aber nur der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen in Frage kommen.
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Dieser Vorschlag war dem AA am 15. 5. vom RWeM unterbreitet worden (R 43 I/1848, Bl. 69).
Es wird sich deshalb empfehlen, die Angelegenheit so zu regeln, daß die beiden Bevollmächtigten in den Abstimmungsgebieten, der Oberpräsident und das Wehrkreiskommando, jedes [!] durch seine vorgesetzte Behörde, gleichlautende Anweisungen erhalten.
Ich beabsichtige, diese folgendermaßen zu fassen, und bitte um Erklärung des Einverständnisses:
„Für den Fall eines polnischen Einfalles in die Provinz Ostpreußen einschließlich der Abstimmungsgebiete Allenstein und Marienwerder wird angeordnet:
1) Solange die Verbindung der ostpreußischen Dienststellen mit den Berliner Zentralstellen aufrecht erhalten werden kann, sind unverzüglich deren Weisungen einzuholen.
2) Bei Gefahr im Verzuge oder für den Fall der Abschnürung Ostpreußens vom Reiche gelten folgende Bestimmungen:
1. | Der Oberpräsident hat alle notwendigen Maßnahmen für den Schutz Ostpreußens zu treffen. Das Wehrkreiskommando hat den allgemeinen Weisungen des Oberpräsidenten zu folgen. |
2. | Das Einrücken deutscher Streitkräfte (Reichswehr und Sicherheitspolizei) in eines der Abstimmungsgebiete darf nur mit ausdrücklicher Zustimmung des zuständigen Abstimmungskommissars erfolgen. Die Verwendung im Abstimmungsgebiet selbst erfolgt nur nach den Weisungen der betr. Abstimmungskommission. |
3. | Den Anforderungen des Abstimmungskommissars auf Entsendung von Streitkräften zum Schutz des Abstimmungsgebietes ist von dem Oberpräsidenten sofort und in dem Umfange zu entsprechen, den die Interessen des übrigen Ostpreußens nur irgend gestatten. |
3) Zwischen dem Oberpräsidenten, den Abstimmungskommissaren und dem Wehrkreiskommando I ist über alle Vorbereitungen zum Schutze Ostpreußens dauernd Fühlung zu halten“6.
R.M.
gez. Köster