Text
Nr. 28
Der Oberpräsident der Provinz Sachsen Hörsing an die Reichsregierung. Magdeburg, 9. April 1920
[Betrifft: Lage in der Provinz Sachsen und Vollmachten des Oberpräsidenten.]
Mit Nachstehendem gestatte ich mir kurz die Verhältnisse darzustellen, wie sie z. Z. in der Provinz Sachsen liegen.
Nachdem der Kapp-Putsch niedergeschlagen ist, habe ich eine Verordnung[69] erlassen, die in der Anlage beigefügt ist1. Bereits vorher hatte ich, da zwischen den Landräten und den Kreisräten große Unzuträglichkeiten herrschten, die Kreisräte den Landräten unterstellt. Dieses erfolgte telegrafisch von Stuttgart aus. Eine Abschrift des Telegrammes an die Regierungspräsidenten ist gleichfalls der Anlage beigefügt2.
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Als RKom. für die Provinz Sachsen und den Freistaat Anhalt hatte Hörsing angeordnet, daß Maßnahmen der Arbeitgeber gegen den Generalstreik verboten seien; als Sicherheitsorgane sollten neben Reichswehr und Polizei lediglich Einwohnerwehren gelten. Sie allein durften Uniformen tragen. Besitz und Tragen von Waffen war weitgehend eingeschränkt; gegen Beamte, die am Kapp-Putsch beteiligt gewesen waren, sollten Verfahren eingeleitet werden; Agitation der Beamten gegen Regierung und Verfassung war verboten. Bilder, Büsten etc. des Kaisers und des Kronprinzen hatten ebenso wie Inschriften „kaiserlich, königlich“ etc. an und in öffentlichen Gebäuden entfernt zu werden (R 43 I/2705, Bl. 136).
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Das Telegramm hatte den Inhalt: „Ich ordne hiermit an, daß die Kreisräte Ihres Regierungsbezirkes den Landräten unterstellt werden. Landräte sind für Ruhe und Ordnung im Kreis verantwortlich. Sicherheitsmaßnahmen dürfen nur im Einverständnis oder auf Befehl der Landräte ausgeführt werden. Landräte haben sich vor jeder Maßnahme mit dem Bezirkskommissar und Landtagsabgeordneten Wittmaack in Magdeburg ins Einvernehmen zu setzen und dessen Zustimmung einzuholen. Setzen Sie auf dem schnellsten Wege Bezirkskommissar Wittmaack und sämtliche Landräte hiervon in Kenntnis“ (R 43 I/2705, Bl. 134).
Infolge dieser Erlasse beruhigte sich ein Teil der Bevölkerung verhältnismäßig schnell, da sie daraus ersahen, daß positive Arbeit geleistet wird. Die Beruhigung trat ganz besonders im Regierungsbezirk Magdeburg ein, wo Kämpfe fast gar nicht stattfanden und die Verbreitung der Verordnung sehr schnell möglich war. Anders lagen die Dinge im Regierungsbezirk Merseburg und Erfurt3. Im Regierungsbezirk Merseburg, wo das Militär und die Zeitfreiwilligenverbände eine zum mindesten sehr unklare Haltung einnahmen4, glaubte die Arbeiterschaft gegen Kapp-Truppen kämpfen zu müssen. Im Regierungsbezirk Erfurt hatte sich das Militär von vornherein auf den Standpunkt der verfassungsmäßigen Regierung gestellt. Jedoch auch hier fanden größere Kämpfe statt, weil die Bevölkerung, im besonderen die Arbeiterschaft, in den Ortschaften, wo Waffenfabriken sind, der Versicherung des Militärs nicht glaubten, andererseits aber auch von Gotha aus zum Kampf aufgestachelt wurden5. Ich habe in Gegenwart des Reichswehr-Ministeriums (Generalmajor Frotscher) in Halle und Erfurt Konferenzen abgehalten, zu der alle Parteien, Behörden, Militär und Sicherheitspolizei hinzugezogen waren. An beiden Orten habe ich bewirkt, daß die Arbeit aufgenommen wurde. Natürlich wurden auch hier große Forderungen der Arbeiter gestellt, die, zum Teil recht allgemein gehalten, von mir bewilligt werden konnten. Andere Forderungen, die ich nicht bewilligen konnte, werden dieser Tage, genau formuliert, den Regierungen zugehen6.
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Aus den Lageberichten über die Märztage geht hervor, daß es in Magdeburg Stadt und Land in den ersten Tagen nach dem Kapp-Putsch ruhig blieb; demgegenüber kam es in den Regierungsbezirken Merseburg und Erfurt zu schweren Kämpfen der Arbeiterschaft mit der Reichswehr (P 135/11760), deren Folge latente Spannungen zwischen den Linksparteien und dem Militär waren.
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S. Dok. Nr. 26.
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Zu den politischen Zuständen in Gotha s. Dok. Nr. 7.
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Nicht ermittelt.
Wenn es mir überhaupt gelang, dort Ordnung zu schaffen, so war dies nur möglich, daß ich als Reichskommissar und Militärbefehlshaber für Sachsen und[70] Anhalt mit allen Vollmachten des Herrn Reichspräsidenten ausgestattet war. Auch innerhalb der Truppenverbände ist es mir als Militärbefehlshaber gelungen, Ordnung herzustellen, besonders, da ich sehr oft verfügen konnte, daß Offiziere, die sich in den ersten Tagen für Kapp erklärt, von der Truppe fortgeschickt, nicht mehr zu dieser zurückkehren durften; ebenso konnte ich verfügen, daß Unteroffiziere und Mannschaften, denen, weil sie zur verfassungsmäßigen Regierung hielten, gekündigt worden war, sofort wieder eingestellt werden. An anderen Stellen ist es vorgekommen, daß verfassungstreue Unteroffiziere in Haft gesetzt wurden. Auch dieses konnte ich inhibieren.
Inzwischen ist nun die Verfügung des Herrn Reichspräsidenten erlassen, wonach die Vollmachten der Reichskommissare, soweit sie auch militärische Befehle haben, eingeschränkt werden7. Ich bin mir bewußt, daß der Herr Reichspräsident, im guten Glauben annehmend, daß die Reichskommissare die militärische Operation stören, die Vollmachten stark eingeschränkt hat. Andererseits weiß ich auch, daß die Herren Militärs mit aller Gewalt darauf drängten, daß nur sie allein in militärischen Dingen etwas zu sagen haben. Diese Verordnung des Reichspräsidenten ist nun vom Reichswehr-Ministerium bis herunter zu den kleinsten Truppenverbänden in Umlauf gesetzt worden und die ganze Angelegenheit hat nur den Zweck, mich auszuschalten! Die Folge ist bereits eingetreten. Militärische Verschiebungen, Verhaftungen von Personen usw. durch das Militär finden statt, ohne daß ich etwas dazu sagen kann. Ich habe zwar der Brigade 4 und 16 noch einmal erklärt, daß durch diese Verordnung mein Oberbefehl nicht eingeschränkt wird, daß diese nur durch eine besondere Verordnung des Reichspräsidenten eingeschränkt werden kann. Ich merke aber, daß sich die Herren Militärs nicht mehr an meine Befehle halten, fußend auf die oben erwähnte Verordnung des Herrn Reichspräsidenten.
Wie allgemein bekannt, liegen nun die Verhältnisse in der Provinz Sachsen augenblicklich äußerst schwierig. Der Regierungsbezirk Merseburg und auch der Regierungsbezirk Erfurt, die Hochburgen der Unabhängigen Sozialdemokraten waren, werden allmählich Hochburgen der Kommunisten und Syndikalisten. Rein lokaler Natur werden die unglaublichsten Dinge inszeniert, wie zum Beispiel gestern in Tangermünde und Delitzsch8. Wenn ich nun militärisch nichts mehr zu sagen habe, dann kann es sehr leicht passieren, daß durch das Eingreifen des Militärs das größte Unheil angerichtet wird. In Tangermünde und Delitzsch ist es mir zwar gelungen, mit dem Militär eine Verständigung zu erzielen, ich glaube aber, daß das nicht immer der Fall sein wird.
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In Delitzsch war der Landrat von einer kleinen Gruppe Bewaffneter verhaftet worden, ohne daß eine politische Veranlassung vorgelegen hätte, und in Tangermünde hatten Linksextremisten die Räterepublik ausgerufen (Vorwärts vom 8.4.20 Nr. 179, 180).
Wenn ich als Reichskommissar die Verantwortung für Ruhe und Ordnung tragen soll, so muß ich in erster Linie verlangen, daß das Mandat des Regierungspräsidenten von Merseburg, der Regierungsrat ist, aufgehoben und gleichfalls mir übertragen wird, so daß ich also in vollem Umfange Reichs- und Staatskommissar bin. Ich muß aber auch bitten. mir den militärischen Oberbefehl[71] nicht zu entziehen, denn nur dann, wenn ich den Behörden gegenüber Reichs- und Staatskommissar und dem Militär gegenüber militärischer Befehlshaber bin, kann ich dafür garantieren, daß Ruhe und Ordnung, soweit es irgend möglich ist, aufrecht erhalten wird. In diesem Sinne bitte ich nochmals die Reichs- und Staatsregierung, mir ihrerseits das Mandat als Reichs- und Staatskommissar bestätigen zu wollen und außerdem beim Herrn Reichspräsidenten zu erwirken, daß ich für die Provinz Sachsen und den Freistaat Anhalt den militärischen Oberbefehl erhalte. Das Letztere bitte ich in verfügender Form bekannt zu geben, damit auch die Truppen so schnell als möglich davon Nachricht erhalten.
Ich bitte, die Angelegenheit als dringend zu behandeln, da gar nicht abzusehen ist, was in den nächsten Tagen sich alles ereignen kann, denn nach meinem Dafürhalten sind die Kommunisten und Syndikalisten stark an der Arbeit, neue Unruhen zu inszenieren9.
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Am 17. 4. antwortete UStS Albert dem OPräs., daß für ihn als RegKom. für die Provinz Sachsen die Bestimmungen der VO des RPräs. vom 11. 4. gelten würden, die dem Reg-Kom. die vollziehende Gewalt übertrage (R 43 I/2705, Bl. 137). Lageberichte vom 24. 4. (R 43 I/2711, Bl. 264-266), vom 18. 5. (P 135/11760), vom 31. 5. (R 43 II/398, Bl. 43-47) und vom 1.6.20 (P 135/11760) kennzeichneten die Lage in der Provinz Sachsens als weiterhin von kommunistischen Putschversuchen gefährdet.
Hörsing