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Nr. 142
Bericht der Reichszentrale für Heimatdienst über die Haltung der Bevölkerung während der Regierungskrise. 17. Juni 19201
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Der Bericht ging StS Albert am gleichen Tag zu. MinR Brecht verfügte auf dem Anschreiben, der Bericht sei sowohl dem RK wie auch MinDir. Meissner im Büro des RPräs. vorzulegen (R 43 I/2504, Bl. 305-308, hier: Bl. 305).
Es sind durch Rundtelefonat den Landesabteilungen einige Fragen vorgelegt worden, welche darauf abzielten, die Stimmung der Bevölkerung in Bezug auf die gegenwärtige Regierungskrise kennen zu lernen2.
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Zur Regierungskrise und Neubildung der RReg. s. die Einleitung und das „Kabinett Fehrenbach“.
Zur ersten Frage: „Wie wäre die Stimmung der Bevölkerung gegenüber der Bildung einer bürgerlichen Regierung unter Ausschluß der Sozialdemokratie?“ herrscht die Auffassung vor, daß eine derartige Regierung nicht einmal von den Rechtsparteien gewünscht würde. Mehrere Landesabteilungen (Breslau, Dresden, Duisburg, Halle a/S, Dortmund) halten die nach einer derartigen Regierungsbildung entstehende Lage für kritisch. So teilen Dresden und Breslau mit, daß in Arbeiterkreisen in diesem Fall mit Generalstreik gerechnet werde, Halle will wissen, daß die USPD bereits Maßnahmen gegen eine derartige Regierung getroffen habe3; Dortmund sieht den sofortigen Bürgerkrieg voraus, da die Stimmung sehr gespannt sei, z. B. Dortmund, Essen usw. seit Tagen kein Brot mehr haben, Frankfurt a/Main ist der Meinung, daß die Sozialdemokraten nach einiger Zeit doch wieder in die Regierung eintreten würden.
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Demgegenüber berichtete der RKom. zur Überwachung der öffentlichen Ordnung Kuenzer am 21. 6., nachdem er eine Reise nach Mitteldeutschland gemacht hatte, daß nach den Wahlen die Gerüchte über Putschabsichten von rechts und links verstummt seien. „In Halle, in Erfurt wie in Magdeburg seien Kommunisten und USP getrennt und bekämpften sich scharf“ (R 43 I/2711, Bl. 365-369, hier: Bl. 366)
Die zweite Frage: „Wie ist die ablehnende Haltung der beiden sozialdemokratischen Parteien aufgenommen worden?“ wird vielfach (Dresden, Stuttgart, Kassel, Breslau, Rostock, Duisburg, Hamburg, Magdeburg) dahin beantwortet,[339] daß nach Ablehnung der USPD die Zwangslage der SPD begriffen werde. Die USPD habe sich aber, wie man glaube, durch ihre Weigerung schwer geschädigt und werde bei den nächsten Wahlen einen großen Teil ihrer Stimmen einbüßen (Duisburg, Halle, Frankfurt a/Main, München).
Auf die dritte Frage: „Wie würde die Bevölkerung die Wiederberufung der alten Koalitionsregierung aufnehmen?“ erwidern die Landesabteilungen durchweg, daß eine solche Lösung weiten Kreisen nicht unsympathisch erscheine, daß man jedoch allgemein davon überzeugt sei, daß es sich dabei nur um ein Provisorium handeln würde, dessen Sinn in erster Linie der wäre, Neuwahlen nicht sofort, sondern erst im Herbst eintreten zu lassen (Breslau, Halle)4.
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Zur Frage der Regierungsbildung teilte RKom. Kuenzer auf Grund seiner Erkundigungen mit: „Werde eine Regierung aus den alten Koalitionsparteien gebildet oder auch ohne Mehrheitssozialdemokratie, aber unter Ausschluß der Rechten, so bestehen keinerlei Gefahren, daß in nächster Zeit Putsche vorkommen. Aber auch wenn sich die Rechte an der Regierung beteiligen sollte, würden wohl nicht direkte Unruhen ausbrechen; die Arbeiter würden aber dann außerordentlich mißtrauisch werden, und mit Unruhen sei zu rechnen bei Anordnungen der Regierung, die nach Ansicht der Arbeiter die Arbeiterinteressen verletzen“ (R 43 I/2711, Bl. 365-369, hier: Bl. 366f.).
Auf die vierte Frage: „Wie würde die Bevölkerung die anscheinend bevorstehende Bildung einer Minderheitsregierung aus den Mittelparteien unter Beiseitestehen der Sozialdemokraten aufnehmen?“ liegt erst ein Teil der Antworten vor. Aus einigen Orten (Halle, Erfurt, Magdeburg) wird eine allgemeine Entspannung und Gleichgültigkeit der Bevölkerung in Bezug auf eine Regierungsbildung gemeldet, die, wie man glaubt, in keinem Falle eine definitive Lösung bringen, sondern ein Provisorium darstellen könne. Als ein derartiges Provisorium wird auch die Aussicht auf die in Rede stehende Koalition der Mitte angesehen und, da sie immerhin für den Augenblick etwas Positives bedeutet, begrüßt. Aus München wird berichtet, daß die politische Atmosphäre so geladen sei, daß ein kleiner Anlaß genügen könnte, plötzlich neue Wendungen herbeizuführen. Diese Bildung einer Minderheitsregierung dürfte diesen Anlaß jedoch nicht bedeuten.
Auf die fünfte Frage: „Wie würde sich die Bevölkerung zu der Bildung eines sogenannten nicht auf eine feste Parteimehrheit gestützten Wirtschaftskabinetts stellen?“ antworten die Landesabteilungen Dresden, Stuttgart, Kassel, Breslau, Königsberg, Heidelberg, daß ein solches Kabinett sympathisch begrüßt werden würde, allerdings nur als ultima ratio um über die Gefahr des Augenblicks hinwegzukommen. In der Sache selbst scheine man von einem Wirtschaftskabinett – obgleich es freilich nicht unpolitisch sein könne – doch eine weniger scharfe parteipolitische Orientierung zu erwarten. Halle erklärt, daß der größte Teil der Bevölkerung sich über den Begriff eines Wirtschaftskabinetts nicht recht klar sei. In Rostock werde ein solches Kabinett von allen Seiten abgelehnt. Ebenso in Duisburg und in Hamburg. Münster hält ein W.-Kabinett auch als Übergangsstation für keine glückliche Lösung. Desgleichen München.
Die sechste Frage: „Wie wäre die Stimmung der Bevölkerung gegenüber und bei demnächst etwa folgenden Neuwahlen?“ wird ziemlich gleichmäßig[340] dahin beantwortet, daß mit Neuwahlen allenthalben gerechnet werde. Nur glaubt man, daß sofortige Neuwahlen kein wesentlich anderes Ergebnis haben könnten (Breslau); man hält den Herbst für den besten Zeitpunkt (Stuttgart, Dortmund, Halle). Frankfurt a/M. ist allerdings der Meinung, daß man im Herbst bereits eine Diktatur haben könne.
Die siebente Frage: „Ist im Falle einer längeren Hinauszögerung der Regierungsbildung mit ernster Beunruhigung unter der Bevölkerung zu rechnen?“ wird verschiedenartig beantwortet. Breslau, Rostock, Duisburg, Halle, Heidelberg, Münster, Magdeburg, Frankfurt, München glauben nicht an die Möglichkeit, daß Unruhen bei einer noch weiteren Hinausschiebung der Regierungsbildung eintreten könnten. Dagegen glaubt Stuttgart, Dortmund, daß angesichts der immer ungünstiger sich gestaltenden Lebensverhältnisse Unruhen mit Sicherheit erwartet werden könnten. Die Lebensmittelpreise in Stuttgart seien in den letzten Tagen rapid gestiegen, die Rechtspresse bringe dort Meldungen von neuen Putschversuchen, und es sei Tatsache, daß in den Kreisen der alten Bürgerwehren eine lebhafte Bewegung im Gange sei; es werde zur Instandhaltung der Waffen aufgerufen. Auch die Bauern würden aufgerufen, sich zu bewaffnen, um Spartakus gebührend zu empfangen. Dortmund meldet, daß die Stimmung äußerst gedrückt sei. Seit 8 Tagen seien die Lebensmittelpreise enorm gestiegen. Der große Brotmangel im Industrierevier habe in den Stadtparlamenten von Dortmund und Essen zu lebhaften Ausbrüchen und Angriffen gegen die Zwangswirtschaft geführt. Auch Zeitungen der bisherigen Regierungsparteien vermögen es – in Anbetracht der Stimmung der Bevölkerung – nicht mehr, die Zwangswirtschaft zu verteidigen.