2.1 (bru1p): Nr. 1 Abgeordneter Schiele an Abgeordneten Brüning. 29. März 1930

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[1] Nr. 1
Abgeordneter Schiele an Abgeordneten Brüning. 29. März 1930

Nachlaß Pünder 131, Bl. 231–234 Durchschrift1

1

Bei der im Nachl. Pünder  vorhandenen Abschrift fehlen Anrede, Briefschluß sowie die zweite Seite, die Schieles „Landwirtschaftliche Sofortmaßnahmen“ enthielt. Eine vollständige Durchschrift dieses Schreibens befindet sich im Dt. Zentralarchiv Potsdam, Büro des RPräs., Bd. 46 fol. 9 ff. (vgl. Th. Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP (1962), S. 75, Anm. 264). Das Fragment im Nachl. Pünder konnte durch eine Abschrift des vollständigen Schreibens aus dem Besitz des verstorbenen Prof. Dr. Vogelsang ergänzt werden. Der Präs. des RLB Schiele sollte auf besonderen Wunsch des RPräs. das REMin. im RKab. Brüning übernehmen. Schieles Forderungen gefährdeten die Regierungsbildung, die Verständigung zwischen Brüning und Schiele kam erst nach dem Eingreifen des RPräs. zustande (Schultheß 1930, S. 93; vgl. Morsey, Neue Quellen zur Vorgeschichte der Reichskanzlerschaft Brünings, in: Brüning-Festschrift, S. 227–228; Brüning, Memoiren, S. 162).

[Bedingungen für den Eintritt in das Kabinett Brüning]

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Die Voraussetzung meines Eintritts in das Kabinett ist die Unabhängigkeit von jeder Bindung an Fraktion und Partei. Ich selbst würde sie mir wahren und ich bin überzeugt, daß nur so bei den jetzt gegebenen Mehrheitsverhältnissen ein Erfolg möglich ist. Nach den bisherigen Unterredungen habe ich nicht den Eindruck gewinnen können, daß für das in der Bildung begriffene Kabinett das nach meiner Auffassung erforderliche Maß parteipolitischer Unabhängigkeit gesichert ist. Umso mehr muß ich entscheidenden Wert auf Gewährleistung der Sicherheit legen, daß das Kabinett entschlossen ist, diejenigen Forderungen, für die ich mich als Ernährungsminister einzusetzen habe, unter allen Umständen – wenn es sein muß also auch gegen eine Mehrheit des Reichstages – mit den verfassungsmäßigen Mitteln durchzusetzen.

Diese Forderungen sind die eines umfassenden Wirtschafts-, Agrar- und Ostprogramms im Sinne des von dem Herrn Reichspräsidenten gelegentlich der Unterzeichnung der Liquidationsverträge an das Kabinett gerichteten Schreibens2.

2

S. das Schreiben des RPräs. an RK Müller vom 13.3.30, diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 474. Zur Osthilfe vgl. das Schreiben des RPräs. an RK Müller vom 18.3.30, a.a.O., Dok. Nr. 480.

Zu diesem Zwecke müßte mir mindestens die unbedingte Durchführung der nachstehend unter A–C aufgestellten Forderungen gewährleistet sein:

A. landwirtschaftliche Sofortmaßnahmen3:

3

Dieser Teil des Schreibens wurde in R 43 I /2543 , Bl. 6–7 aufgenommen. StS Pünder vermerkte am 2.5.30 zu diesem Programm: „Nach erneuter Kenntnisnahme durch den Herrn Reichskanzler zurück zu den Vorgängen. (Die Anlage ist sehr wichtig, als eine der Grundlagen der letzten Regierungsbildung; ich bitte daher – nach Registrierung, falls noch nicht geschehen – um sorgfältige Aufbewahrung, damit die Anlage jederzeit zur Hand ist)“ (R 43 I /2543 , Bl. 8). MinR Feßler stimmte in einer Stellungnahme vom 4.4.30 dem Agrarprogramm im wesentlichen zu. Zu Schieles Plänen vgl. auch Dok. Nr. 11 und Dok. Nr. 12, P. 1.

1.

Getreide (Roggen, Weizen, Hafer, Gerste) und Erzeugnisse aus Getreide: Ermächtigung für den Ernährungsminister, die Zollsätze herab- oder heraufzusetzen,[2] wenn die Entwicklung der Getreidepreise es erfordert. Hierbei hat ein Preis von 230 Mk. je t Roggen und von 260 Mk. je t Weizen als Jahresdurchschnittspreis zu gelten.

Die Bemessung des Wertes der Einfuhrscheine für die oben genannten Getreidearten und Erzeugnisse aus denselben, hat in derselben Art und nach den gleichen Grundsätzen zu erfolgen.

2.

Ermächtigung für den Ernährungsminister zur Einführung eines Beimischungszwanges von Roggen- zu Weizenmehl4.

3.

Die aus dem Maismonopol anfallenden Mittel und ein bestimmter Teil des Anfalles des Gerstenzolles werden dem Ernährungsminister zur Verfügung gestellt zur Förderung des Absatzes, zur Marktbereinigung und Marktstützung für landwirtschaftliche Erzeugnisse.

4.

Schweine: Der Reichsernährungsminister hat den Zollsatz für Schweine und Schweinefleisch sowie den Wert der Einfuhrscheine für Schweine und Schweinefleisch herab- und heraufzusetzen, wenn die Entwicklung des Schweinepreises es erfordert. Hierbei hat ein Preis von 75 Mk. je Ztr. Schweinelebendgewicht für die Klasse C am Berliner Schlachtviehmarkt als Durchschnittspreis zu gelten.

Der Zollanfall für die auf Grund des unterschriebenen deutsch-polnischen Handelsvertrages nach Deutschland kommenden polnischen Schweine bzw. Fleisch aus denselben, wird dem Ernährungsminister zur Verfügung gestellt zur Förderung des Reexports der importierten polnischen Schweine und zur Marktbereinigung und Marktstützung des deutschen Schweinemarktes.

5.

Rinder: Volle Wiederinkraftsetzung des § 12 des Fleischbeschaugesetzes5, d. h. praktisch Einfuhrsperrung für Gefrierfleisch bzw. Ersatz durch eine entsprechende Menge Frischfleisch aus den nordischen Ländern6.

6.

Milchwirtschaft: Sofortige Einleitung erneuter Verhandlungen mit Finnland zur Beseitigung der Bindung der Zölle für Milch- und milchwirtschaftliche Erzeugnisse7.

4

REM Dietrich hatte einen Beimischungszwang von 20% vorgeschlagen (diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 467, P. 4), während RT-Abg. Schiele eine Quote bis zu 30% gefordert hatte (RT-Bd. 440 , Drucks. Nr. 1834 ).

5

S. Dok. Nr. 11, Anm. 9.

6

Vgl. Dok. Nr. 11, Anm. 8. Gegen die Aufhebung des Gefrierfleischkontingents, das den Minderbemittelten zugute kam, machte Feßler innenpolitische Bedenken geltend (R 43 I /2543 , Bl. 4).

7

Die sofortige Aufnahme amtlicher Besprechungen mit Finnland über das am 25.11.29 paraphierte dt.-finnische Handelsabkommen lehnte Feßler mit der Begründung ab, daß dadurch die Verhandlungen der dt. Industrie über eine Abnahmegarantie für finnischen Käse, welche die Bindung des Käsezolls beseitigen würde, gestört würden (R 43 I /2543 , Bl. 5). Vgl. auch Dok. Nr. 91, P. 5.

Bei der Durchführung der vorstehend vorgesehenen Maßnahmen im einzelnen wird das Kabinett dem Reichsernährungsminister freie Hand lassen.

[3] B. Ostprogramm:

Die von dem Herrn Reichspräsidenten geforderte Hilfe für den Osten kann nicht nach den Mitteln bemessen werden, die für das Westprogramm zur Verfügung gestellt werden8. Sie ist nach den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen des Ostens selbständig zu regeln. Dazu gehört in erster Linie die Befestigung des in seinem Bestande aufs äußerste gefährdeten deutschen Besitzes im Osten durch folgende Maßnahmen:

8

Im Haushaltsjahr 1929/30 waren rd. 11,5 Mio RM für die Westhilfe ausgegeben worden (Reichshaushaltsrechnung 1929, V a RMinbesGeb., Kap. E 4, S. 192). Vgl. auch Dok. Nr. 19, P. 4.

1.

Bereitstellung von jährlich mindestens 200 Millionen Mk für die nächsten 5 Jahre zur Senkung der Zinsen auf Reichsbank-Diskont, zur Steuer- und Lastensenkung im weitesten Umfange, zur Schaffung eines Betriebserhaltungsfonds für Betriebe aller Größen zur Fortsetzung der Umschuldung und zur Regulierung der Kreditverhältnisse.

2.

Vorlage eines besonderen Gesetzes über ein Vergleichsverfahren bei landwirtschaftlichen Betrieben, das im Falle von Zahlungsstockungen vor Einleitung von Zwangsversteigerungen, Zwangsverwaltungen oder Maßnahmen der Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen ein außergerichtliches Vergleichsverfahren vorschreibt.

3.

Die Durchführung der Hilfsmaßnahmen in die Hände der Provinz und der landwirtschaftlichen Berufsvertretung zu legen.

C. Sozialpolitische Maßnahmen:

Dem Kompromiß Dr. Brüning über die Arbeitslosenversicherungsreform kann in den Abschnitten 1 und 2 nur dann zugestimmt werden, wenn die Abschnitte 3 und 4 durch folgenden Abschnitt ersetzt werden9:

9

S. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 487. Der Brüning-Kompromiß sah vor: 1. der RAfAuA Reichszuschüsse zu gewähren; 2. ihr für das Haushaltsjahr 1930/31 einen Reichszuschuß von 150 Mio RM zu gewähren und die ALV-Beiträge auf 3½% festzusetzen; 3. der Vorstand der RAfAuA sollte Vorschläge zur finanziellen Konsolidierung der Reichsanstalt und zur Reform des AVAVG ausarbeiten; 4. die RReg. sollte ein Gesetz über die Gewährung von Reichsdarlehen an die RAfAuA vorlegen.

Um den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben der Reichsanstalt zu erreichen, soll der Vorstand der Reichsanstalt die erforderlichen Maßnahmen zunächst auf dem Wege der Verwaltung treffen. Ferner ist gleichzeitig unverzüglich eine Reform des Gesetzes einzuleiten, die auf der Grundlage derjenigen Reformvorschläge aufgebaut ist, auf denen seinerzeit auch das Sachverständigengutachten aufgebaut wurde10. Bei dieser Reform ist jedoch der inzwischen eingetretenen Verschlechterung der finanziellen Lage der Reichsanstalt dadurch Rechnung zu tragen, daß die finanziellen Ergebnisse des Sachverständigengutachtens in jedem Falle nur als Mindestreform zu betrachten sind. Eine Erhöhung der Einnahmen der Reichsanstalt durch eine weitere Beitragserhöhung[4] oder durch eine über die festgesetzten Reichszuschüsse hinausgehende Darlehensgewährung darf nicht in Frage kommen.

10

Das RKab. Müller hatte im Frühsommer 1929 eine Sachverständigenkommission zur Prüfung einer Reform der ALV einberufen (diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 261).

Nach meiner Auffassung ist, wie ich zum Schluß bemerke, Voraussetzung jedes neuen Kabinetts, abgesehen von seiner parlamentarischen Unabhängigkeit, auch eine Änderung der Regierungsverhältnisse in Preußen unter Ausschaltung der Sozialdemokratie. Das Kabinett müßte es sich deshalb zur Aufgabe setzen, diese Änderung herbeizuführen sich bemühen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

[gez. Schiele]

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