Text
[342] Nr. 88
Abgeordneter Hugenberg an den Reichskanzler, 25. Juli 1930
[Notverordnung für das Ostprogramm]
Sehr geehrter Herr Reichskanzler!
Die Reichsregierung hat von dem Herrn Reichspräsidenten die Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen auf Grund des Artikels 48 erhalten. Sie hat die von ihr früher stark betonten staatsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung dieses Artikels zur Einführung von Steuern, die der Reichstag ablehnte, ebenso zurückgestellt, wie die volkswirtschaftlichen Bedenken, die in dem immer stärkeren Anwachsen der öffentlichen Ausgaben begründet sind.
Es besteht der Eindruck, daß die Reichsregierung auf den verschiedensten Gebieten Maßnahmen verordnen will, die an sich der ordentlichen Gesetzgebung vorbehalten sind. Dagegen scheint sie, soweit aus der Presse bisher ersichtlich, nicht gewillt zu sein, das sogenannte Osthilfeprogramm auf dem Verordnungswege durchzuführen. Dieses Programm ist bereits vor Ostern angekündigt1. Es ist in vielwöchentlichen, parlamentarischen Verhandlungen über Gebühr verzögert. Es erfordert keine neuen Steuern. Die für seine Durchführung notwendigen Aufwendungen sind, sowohl im Verhältnis zu der Not des Ostens wie zu dem Gesamtumfang der Reichsausgaben, nur bescheiden.
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Der DVP-Vorsitzende Scholz hatte am 23.7.30 in einem Schreiben an den RK zur Durchführung der Osthilfe u. a. ausgeführt: „Der Herr Reichspräsident und die derzeitige Reichsregierung hat durchgreifende Wirtschaftshilfe auf lange Sicht für alle schaffenden Erwerbszweige der Ostprovinzen versprochen. Die Einlösung dieses Versprechens ist durch die Reichstagsauflösung verzögert. Damit ist in den Ostprovinzen über die wirtschaftliche Katastrophe hinaus eine Stimmung erzeugt, die der Staatsordnung schwer abträglich ist. Mit verzweifelten Menschen kann man nicht von Logik reden, außerdem sind die zu hunderttausenden betroffenen Landwirte und Kleinstädter viel zu unpolitisch, um zu erkennen, wer die Schuld hat, daß nicht die versprochene Hilfe im Augenblick eintritt. Dieser Situation muß m. E. mit allen dem Reichspräsidenten zur Verfügung stehenden verfassungsmäßigen Mitteln begegnet werden. Der Aufbau der Osthilfeorganisationen darf unter dem parlamentarischen Vakuum nicht leiden. Ich halte es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß der Not- und Gefahrenzustand im Osten so groß ist – ich erinnere an die Verzweiflungsausbrüche in Ostpreußen und in der Grenzmark –, daß die Sicherheit und die Ordnung erheblich gestört oder gefährdet ist“ (R 43 I/1804, Bl. 21). Auch der Reichsl-Landbund hatte am 24.7.30 die dringende Bitte an den RK gerichtet, „dafür eintreten zu wollen, daß Maßnahmen, deren normale Erledigung durch die parlamentarischen Vorgänge unterbrochen worden ist, nunmehr ungesäumt im Wege der Notverordnungen und Verwaltungsmaßnahmen durchgeführt werden. Dazu rechnen wir in erster Linie die Inkraftsetzung von Schutz- und Stützungsmaßnahmen für den deutschen Osten, wie z. B. vornehmlich Lastensenkung, Betriebssicherung, Vollstreckungsschutz u. a., sowie ferner eine schleunige Durchführung der dem Westen zugesagten Hilfe.“ Außerdem hatte der Landbund zollpolitische Maßnahmen, „vordringlich bei den Erzeugnissen der Molkereiwirtschaft und einigen anderen landwirtschaftlichen Produkten“, und die Niederschlagung rückständiger und laufender Reichs-, Landes- und Gemeindesteuern gefordert (R 43 I/1870, Bl. 226). Zum gemeinsamen Vorgehen des Reichslandbundes und Hugenbergs s. Brüning, Memoiren, S. 177.
Dadurch, daß die Regierungsparteien die Reichstagsabstimmung über das Osthilfegesetz hinter die Abstimmung über den Antrag auf Aufhebung der[343] Steuernotverordnungen setzten, ist die in sicherer Aussicht stehende Annahme des Gesetzes in letzter Stunde verhindert worden.
Unter diesen Umständen darf ich, namens der deutschnationalen Volkspartei, der Erwartung Ausdruck geben, daß Sie, sehr geehrter Herr Reichskanzler, von dem Herrn Reichspräsidenten in Verfolg seiner wiederholten Willenskundgebungen2 die Ermächtigung zur Inkraftsetzung des Osthilfegesetzes auf dem Verordnungswege erbitten. Ich gehe dabei von der Voraussetzung aus, daß die im Osthilfegesetz vorgesehenen Maßnahmen nur als Anfang einer umfassenden Aktion zur Rettung der deutschen Ostmark anzusehen sind3.
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Vgl. vor allem das Schreiben des RPräs. an RK Müller vom 18.3.30, diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 480.
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Der RK antwortete am 30.7.30 dem DNVP-Vorsitzenden Hugenberg: „Ihr gefl. Schreiben vom 25. Juli habe ich erhalten, nachdem der Herr Reichspräsident bereits die neuen Notverordnungen auf Grund des Art. 48 unterzeichnet hatte. Die Verwirklichung des gesamten Ostprogramms ist durch die Abstimmung des 18. Juli verschoben. Eine Einbeziehung des von der Reichsregierung vorgesehenen Gesamtprogramms in die auf Grund des Art. 48 erlassenen Notverordnungen ist aus verfassungsrechtlichen und kreditpolitischen Rücksichten nicht möglich. Eine Verschleppung der Entscheidungen über das Osthilfe-Gesetz war meines Wissens nie beabsichtigt. Allerdings war den Parteien klar, daß vor der Verabschiedung des Etats und der Deckungsmaßnahmen das Ostprogramm lediglich auf dem Papier stand. Wenn also das Osthilfe-Gesetz nicht insgesamt hat verabschiedet werden können und nicht schon jetzt die Grundlage für einige auf eine Reihe von Jahren vorgesehene Maßnahmen geschaffen werden konnte, so trifft die Schuld hierfür die Parteien, die der Reichsregierung die zur Erfüllung auch dieser Maßnahmen notwendigen Mittel versagt haben“ (Konzept des Schreibens in R 43 I/1870, Bl. 274–275). Das Schreiben des RK ist in der DAZ Nr. 349–350 vom 31.7.30 veröffentlicht worden.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich
Ihr sehr ergebener
Hugenberg