2.197 (bru1p): Nr. 197 Aufzeichnung über die Haltung der SPD zur Reichsregierung

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RTF

Nr. 197
Aufzeichnung über die Haltung der SPD zur Reichsregierung

R 43 I /2663 , Bl. 102–107

Ausgangspunkte1:

1

Autor und Entstehungsdatum dieser Aufzeichnung sind nicht zu ermitteln. Auf der ersten Seite des Dokuments befindet sich der Eingangsstempel der Rkei vom 15.12.30 sowie eine handschriftliche Notiz des persönlichen Referenten des RK, ORegR Walter: „v. Rk 13. 12.“. Das Dok. ist auch abgedruckt in: Matthias/Morsey: Das Ende der Parteien (1960), S. 203–205.

Der zahlenmäßig entscheidende Teil der SPD steht auf dem Standpunkt, daß die Regierung Brüning infolge des Wahlausfalles zurückzutreten habe. Darüber hinaus besteht gegen die Person des Kanzlers und besonders gegen seine „Führung“ größtes Mißtrauen, da er die Führung gegen die Sozialdemokraten inauguriert und durch diese Politik den Staat der größten Erschütterung ausgesetzt habe. Andererseits ist man sich nicht im Unklaren, daß eine Regierung unter Führung der SPD keine parlamentarische Mehrheit erhält, und man ist sehr zweifelhaft, ob einer solchen Regierung nach der Erschöpfung der[726] letzten parlamentarischen Möglichkeiten die Exekutivorgane mit Sicherheit zur Verfügung stehen würden.

Es faßt daher der Gedanke Wurzel, daß der Sturz der Regierung Brüning oder die Bildung einer Regierung mit Einschluß der Nationalsozialisten Staat und Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruches führen werden, an dessen Aufrechterhaltung die SPD (als politische Partei für die Arbeitnehmer) in diesem Augenblick ebenso interessiert ist, wie die Industrie und die Finanz. Auch diese Kreise wissen mit wenigen Ausnahmen, daß einer Regierung mit Einschluß der Nationalsozialisten der ausländische Kredit gesperrt werden wird, daß die Auftragseingänge sich vermindern werden, die Vermögenssubstanz gefährdet und uneinbringliche Verluste herbeigeführt werden würden. Die Sozialisten wissen gleichfalls, daß eine Rechtsregierung eine Erschütterung der Exekutivorgane und eine gesteigerte Unruhe der Arbeitermassen zur Folge hat, die die KPD zum Nachteil der SPD weiter an Einfluß gewinnen lassen würde. Das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung der Wirtschaft durch SPD und Kapital bildet die Basis für die Schaffung einer parlamentarischen Mehrheit.

Aufgabe der Regierung muß es daher sein, ein Programm aufzustellen, gegen das zu stimmen der sozialdemokratischen Partei in Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen schwer fällt, und das der Parteiführung der SPD genug Manövrierfähigkeit gibt, für ein „Programm der Regierung Brüning eintreten zu können“. Hierzu braucht sie Boden unter den Füßen.

Das Kapital, das bisher nur von einem Gedanken – dem Kampf gegen den Sozialismus – beherrscht war, sieht im gegenwärtigen Augenblick die Sicherheit seines Besitzes in der Zusammenarbeit mit der SPD mehr gewährleistet, als in einer nationalsozialistischen Regierung, und diesen Schutz muß es bezahlen. Die SPD, die sich im wesentlichen auf die in dem Arbeitsprozeß stehenden Massen stützt, ist stärkstens an der Senkung der Arbeitslosigkeit interessiert, um neue Massen in den Arbeitsprozeß einzugliedern, und sie muß ihrerseits zur Erlangung dieses Zieles ebenso Opfer bringen.

Dem nur psychologisch erklärbaren Wahlausfall muß durch ein Programm der Regierung ebenso psychologisch entgegengewirkt werden. Ein Regierungsprogramm, das im wesentlichen nur ein saniertes Budget bringt, ist auf längere Zeit kaum parlamentarisch tragfähig und viel zu nüchtern, um die Massen gedanklich zu beschäftigen.

Das Programm muß psychologisch wirken

a) auf die Wähler der Nationalsozialisten, indem sichtbar erkenntlich wird, daß Industrie und Finanz mit ihrem Vermögen hinter dieser Regierung und der jetzigen Staatsform stehen,

b) auf die Arbeitnehmer dahingehend, daß die Arbeitslosigkeit gestoppt, neue Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden,

c) auf die Wirtschaft selbst, daß die Unkosten des Produktionsprozesses gesenkt und eine größere Rentabilität bedürftiger Industriezweige gewährleistet wird.

[727] Dieses Ziel ist nur durch ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu erreichen; dieses muß unabhängig vom Budget mit laufendem Kapitalzufluß rechnen können, der von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammen aufgebracht wird, also ein Programm, das nicht mehr beiderseitige Opfer für die Arbeitslosigkeit, sondern für die Schaffung von Arbeit bedeutet!

Die Summe, die jetzt für das Arbeitsbeschaffungsprogramm laufend aufgebracht werden soll, muß imponierend sein. Die Schaffung eines solchen Programms kann nicht Verhandlungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlassen bleiben, weil die verhandelnden Personen als Träger ihrer Organisationen nach außen hin in Wahrnehmung der ihnen übertragenen Interessen versuchen müssen, die größere Last immer der anderen Partei aufzuhalsen, sondern es muß von der Regierung aufgestellt und kraftvoll durchgeführt werden in der Erkenntnis, daß beide Teile nur die Wahl haben, zusammen zu leben oder zusammen ihre Existenz einzubüßen.

Die beiderseitigen Opfer müssen bestehen für das Kapital in Besitzopfer und in der Leihgabe von Kapital, für die Arbeitnehmer in Lohnsenkung, Abbau übertriebener Ausnutzung der Sozialversicherung, Arbeitszeitverkürzung, Erhöhung des schulpflichtigen Alters um 1 Jahr ab 1. IV. 312.

2

Zum Gedanken der Arbeitszeitverkürzung und der Verlängerung der Schulpflicht vgl. Dok. Nr. 167, Anm. 20.

Das Ergebnis muß bestehen in:

a)

Arbeitsbeschaffung: durch Aufbringung von Kapital,

b)

Senkung der Arbeitslosigkeit

a)durch Arbeitsbeschaffung

b)Verhinderung des Zustroms neuer junger Arbeitskräfte,

c)Einstellung von Arbeitskräften durch Verkürzung der Arbeitszeit, soweit wirtschaftlich vertretbar.

c)

Rentabilität der Wirtschaft: durch Senkung der Selbstkosten (Löhne, Soziallasten).

d)

Preissenkung: durch Kombinierung mit Lohnsenkung

und läßt sich erreichen:

durch Verwirtschaftlichung des Arbeitsbeschaffungsproblems mit den von beiden Seiten zu bringenden Opfern, die über den Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms hinaus ihre Wirkung auf die Belebung des ganzen Wirtschaftsprozesses ausüben müssen,

und zwar auf folgende Weise:

1.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer bilden unter Vorsitz eines Regierungsvertreters auf privatwirtschaftlicher Basis eine Arbeitsbeschaffungsstelle (hat den Vorteil, daß die Parteien nicht so schnell wieder auseinandergehen, weil es Arbeit zu verteilen gibt).

2.

das Kapital wird aufgebracht

1. von seiten der Arbeitgeber durch Erhöhung der Industrieobligationssteuer von 0,6% auf den früheren Stand von 0,75%3, so daß jährlich [728] 100 Millionen zur Verzinsung einer einmaligen Anleihe von ca. 1,2–1,4 Milliarden zur Verfügung stehen würden.

2. von seiten der Arbeitnehmer, durch Einzahlung von 50% der Lohnsenkung auf das Kapital der Arbeitsbeschaffungsstelle,

3

Mit der Industrieobligationssteuer ist wahrscheinlich die Aufbringungsumlage gemeint, die von 0,75% für das Rechnungsjahr 1929 (VO vom 3.1.29, RGBl. II, S. 32 ) auf 0,6% für das Rechnungsjahr 1930 gesenkt worden war (VO vom 1.7.30, RGBl. I, S. 196 ).

das Arbeitsbeschaffungsprogramm wird durch die Arbeitsbeschaffungsstelle bestimmt.

Für den Fall, daß es nicht möglich ist, diese Anleihe in voller Höhe unterzubringen, muß der Fehlbetrag des erforderlichen Kapitals durch einen Zuschlag zur Vermögenssteuer und durch eine ¼% Erhöhung der Umsatzsteuer (was bei sinkender Preistendenz tragbar ist) aufgebracht werden.

In Verbindung mit den Vorschlägen für Sanierung der Finanzen bei gerechter Verteilung der Lasten und Einsparung der öffentlichen Ausgaben läßt sich ein Gesamtprogramm herausarbeiten, das der SPD die Möglichkeit gibt, für dieses Programm zu stimmen.

Die Befürchtungen bestehen darin, daß durch eine eventuell mögliche politische Verständigung der Regierung mit der SPD eine vorübergehende parlamentarische Mehrheit erzielbar ist, um nach kurzer Zeit mit allen Schrecken wieder zu zerfallen, nur daß dann der psychologische Augenblick, in dem, wie jetzt die an der Aufrechterhaltung der Wirtschaft interessierten Kreise zu Opfern, die eine Zusammenarbeit für längere Zeit ermöglichen würden, bereit sind, verpaßt ist.

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