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[650] Nr. 176
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über ein Telefongespräch mit Reichskanzler a. D. Müller wegen des Wirtschafts- und Finanzplans der Reichsregierung. 25. November 1930
Soeben fragte mich Herr Reichskanzler a. D. Müller fernmündlich, ob denn wirklich die Nachrichten der „B.Z.“ und anderer Zeitungen richtig wären, wonach Reichskanzler und Reichsregierung schon fest entschlossen seien, den Wirtschafts- und Finanzplan im Wege des Artikel 48 in Kraft zu setzen. Ich verneinte diese Frage sofort und fügte hinzu, noch eben hätte der Herr Reichskanzler in meinem Beisein Fraktionsführern einiger kleinerer Parteien mitgeteilt, daß er über diese letzte Frage noch mit keinem Wort das Kabinett befaßt hätte, daß infolgedessen auch noch kein solcher Beschluß vorläge, und daß auch ein diesbezüglicher Vortrag des Herrn Reichskanzlers beim Herrn Reichspräsidenten weder stattgefunden noch auch angemeldet sei1. Das Bestreben des Herrn Reichskanzlers gehe, wie er dies ja auch den Herren der Sozialdemokratie gegenüber noch gestern zum Ausdruck gebracht hatte, dahin, noch vor dem Zusammentreten des Reichstags durch Besprechungen mit den Parteiführern festzustellen, ob eine schnelle und sachliche Erledigung des Wirtschafts- und Finanzplans im Reichstag möglich sei. Wenn Herr Reichskanzler Müller auf Zeitungsnachrichten hingewiesen hätte, so dürfe auch ich umgekehrt auf die Notiz der „Germania“ gestern abend verweisen, die nach meiner Auffassung ziemlich richtig die Ansicht des Herrn Reichskanzlers wiedergegeben hätte. Dort sei ausdrücklich ausgeführt worden: wenn der Reichstag sich hinsichtlich Beschleunigung und sachlicher Einstellung ebenso verhalten werde wie der Reichsrat, würde eine Notverordnung überflüssig sein.
Herr Reichskanzler Müller war über diese Mitteilungen durchaus befriedigt und betonte, daß er von seinem politischen Standpunkt natürlich großen Wert auf die Innehaltung des ordentlichen Weges der Gesetzgebung legen müsse. Ich fügte ihm gegenüber aber noch in voller Loyalität hinzu: wenn eine Entschließung von Reichskanzler, Reichsregierung und Reichspräsident noch nicht vorliege, so bedeute das natürlich noch keineswegs, daß eine Notverordnung nicht komme. Nach dieser Richtung könne ich persönlich jedenfalls keinerlei Garantie übernehmen. Herr Reichskanzler Müller hielt diesen Zusatz für durchaus verständlich und fügte noch hinzu, daß bei der Feststellung des Versagens des Reichstags in seiner Mehrheit natürlich für den Herrn Reichskanzler eine völlig neue Situation geschaffen sei.
Abschließend sagte ich Herrn Reichskanzler Müller noch, daß nach meinem Gefühl Herr Reichskanzler Brüning gewiß noch großen Wert darauf legen werde, gerade mit ihm auch noch persönlich unter vier Augen über diese letzten Dinge sprechen zu können. Er war hierfür sehr dankbar und stünde am[651] Donnerstag nachmittag zu einer solchen Aussprache zur Verfügung2. Er verreist heute für einen Tag und dann ab Donnerstag abend wieder für mehrere Tage.
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Pünder vermerkte handschriftlich, daß RK a. D. Müller Donnerstag nachmittag (27. 11.) zum Gespräch mit dem RK gebeten werden solle. Ein Vermerk über diese Unterredung war nicht zu ermitteln.
Pünder