2.191 (bru1p): Nr. 191 Aufzeichnung des Ministerialrats Feßler über eine Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern des Handwerks. 9. Dezember 1930

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Nr. 191
Aufzeichnung des Ministerialrats Feßler über eine Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern des Handwerks. 9. Dezember 1930

R 43 I /2015 , Bl. 89–92

Der Reichskanzler empfing die Vertreter des deutschen Handwerks und Gewerbekammertages und des Reichsverbandes des deutschen Handwerks: Derlien, Dr. Meusch und Generalsekretär Hermann in Gegenwart von Staatssekretär Dr. Trendelenburg, Ministerialdirektor Dr. von Hagenow, Ministerialrat Dr. Hoppe und Ministerialrat Dr. Feßler (als Protokollführer)1.

1

Der Empfang ging auf eine Bitte des Generalsekretärs des Reichsverbands des Dt. Handwerks, Hermann, zurück (Schreiben Hermanns vom 4.12.30 an den RK, R 43 I /2015 , Bl. 88).

Die Vertreter des Handwerks brachten folgendes vor:

Sie bedauerten, vor der Entscheidung über Neubesetzung des Reichskommissariats für das Handwerk2 und vor Erlaß der Bestimmungen der Notverordnung, die das Handwerk angehen3, nicht gehört worden zu sein. Das[701] Reichskartell des Mittelstandes4 werde von ihnen nicht als berufene Vertretung des Handwerks anerkannt.

2

S. Dok. Nr. 130, P. 5.

3

Die Vertreter des Handwerks waren wohl an folgenden Teilen der NotVO vom 1.12.30 interessiert: Steuervereinfachung und Steuervereinheitlichung (RGBl. I, S. 530 ), Senkung von Realsteuern und Verkehrssteuern (RGBl. I, S. 582) und Wohnungswirtschaft (RGBl. I, S. 593).

4

Hinter dem 1928 gegründeten Reichskartell des selbständigen Mittelstandes stand der Vorsitzende der WP, Drewitz.

Das Handwerk sei bereit, sich der Abwärtsentwicklung der Preise nicht zu entziehen. Es gewinne aber den Anschein, als wenn sich die Bewegung im Übermaße gegen die letzten Glieder der Erzeugung und der Verteilung richte.

Die Bindungen, die die Innungen hinsichtlich der Preise unter Ordnungsstrafandrohung hätten, sollen nach einem Rundschreiben der Zentralstelle an die Innungen für die Notzeit aufgehoben werden5. Nur im Falle grober Verstöße gegen die Standesehre und unlauterer Konkurrenz sollen die Innungen einschreiten.

5

In den Akten der Rkei nicht ermittelt.

Bei dieser Sachlage sei dringend erwünscht, daß gegen die Innungen nicht auf Grund kartellrechtlicher Bestimmungen vorgegangen werden. Staatssekretär Trendelenburg und das Preußische Handelsministerium hätten bereits entsprechende Zusagen gemacht. Der Versuch des ehemaligen Reichskanzlers Luther, im Wege des Zwanges Preisherabsetzungen des Handwerks herbeizuführen, habe damals den guten Willen zum Mitgehen zerstört6. Ähnliche Maßnahmen würden auch zur weiteren Radikalisierung des Mittelstandes beitragen.

6

S. Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 267 und Nr. 294.

Das Handwerk glaube, die Regierung fördere die Landwirtschaft zur Zeit mehr als im Rahmen der gesamten Wirtschaft angemessen, und auf Kosten des Nahrungsmittelgewerbes.

Die Hoffnungen auf eine Senkung der Realsteuern7 seien durch die Bestimmungen des Gewerbesteuerrahmengesetzes8 beeinträchtigt. Es bestehe weitgehend die Auffassung, daß das Kleingewerbe durch sie Schaden leiden würde. Wenn der Reichsminister der Finanzen von der Ermächtigung Gebrauch machen würde, die ihm in dieser Richtung durch die Notverordnung gegeben sei, so müsse wohl diese Auffassung berücksichtigt werden.

7

S. die NotVO vom 1.12.30, RGBl. I, S. 582 .

8

Vgl. die NotVO vom 1.12.30, RGBl. I, S. 537 .

Es werde Wert darauf gelegt, daß vor Erlaß von Bestimmungen, die das Handwerk angehen, der Reichskommissar gehört werde. Bei den Verhandlungen über die Änderung des Brotgesetzes sei zwar der Präsident des Germania-Verbandes verständigt worden9, nicht aber sei er darauf hingewiesen worden, daß Weizengebäck in Gastwirtschaften verboten werden solle. Diese Bestimmung wirke sich sehr ungünstig aus. Die Schwierigkeiten des Bäckergewerbes stiegen; Arbeiterentlassungen seien die Folge, Verärgerung greife um sich. Dabei sei fraglich, ob der Landwirtschaft dadurch geholfen werde.

9

S. dazu Dok. Nr. 183.

Die Preise der Handwerker seien stark gefallen. Schlafzimmer könnten in guter Arbeit in Süddeutschland bereits für 360 M gekauft werden.

Der Kasein-Zoll10 würde die Arbeiten des Malergewerbes wesentlich verteuern. Es wurde gebeten, die Frage zu prüfen, ob nicht nach dem Vorbild[702] Österreichs eine Bestimmung dahin getroffen werden könne, daß das Handwerk an öffentlichen Lieferungen mit einem festen Prozentsatz beteiligt würde. Die Bestimmung habe sich dort bewährt. Sie würde auf die mittelständischen Kreise einen nachhaltigen Eindruck machen.

10

Vgl. Dok. Nr. 190, P. 2, Dok. Nr. 193 und Dok. Nr. 194, P. 1.

Die Machtmittel der Notverordnung seien gegen die Industriekartelle nach Auffassung des Handwerks noch nicht ausreichend angewandt worden.

Auch in der Lohnpolitik müsse auf die Notwendigkeiten der Entwicklung und die Bedürfnisse des Handwerks weitergehend Rücksicht genommen werden als bisher. Die schematische Regelung der Arbeitszeit mit acht Stunden vertrage sich nicht mit der Art der Arbeitsleistung, die von der des Maschinenarbeiters wesentlich verschieden ist. Jeder Gang müsse bezahlt werden. Nebenzuschläge seien vereinbart. Die Verkürzung der Arbeitszeit mindere das Arbeitsergebnis.

Zur Durchführung von Streiks sei das Handwerk wirtschaftlich nicht stark genug. Die Einbeziehung der Lehrlinge in das Tarifverhältnis sei zu bedauern11; sie widerspräche dem Verhältnis zwischen Lehrherrn und Lehrling und verteuere den Betrieb. Die Verarmung des Mittelstandes wirke sich im Handwerk besonders stark aus; sie würde noch weiter Nachteile bringen, wenn nicht gerade auch auf dem Gebiet der Lohnpolitik Erleichterungen geschaffen würden. Insbesondere die Reparaturkosten müßten verbilligt werden.

11

S. NotVO vom 1.12.30, RGBl. I, S. 520 .

Notwendig sei baldiger Abschluß der Preissenkung. Die starke Zurückhaltung der Käufer und Besteller führe zu einer weitgehenden Stagnation im Gewerbe.

Das Fleischergewerbe leide unter den erhöhten Ansprüchen der Kundschaft.

Erwünscht sei, daß das Reichswirtschaftsministerium die Spitzenverbände der Gewerbe veranlasse, auf örtliche Verhandlungen mit den Behörden über die Preissenkung hinzuwirken.

Bedenklich seien die Bestimmungen über den gemeinnützigen Wohnungsbau12; sie führten dazu, daß das Handwerk ausgeschaltet werde.

12

NotVO vom 1.12.30, RGBl. I, S. 593 .

Die Vertreter des Handwerks sagten zu, dem Reichswirtschaftsministerium Material über die Bestimmungen der Tarifverträge zuzuleiten, die im besonderen Maße die Arbeit verteuern und lästig wirken. Sie werden auch über die Preise des Schneiderhandwerks Feststellungen treffen und das Ergebnis dem Reichswirtschaftsministerium mitteilen. Auch wegen der besseren Publizierung der Preisermäßigungen werden sie allgemeine Erörterungen anstellen.

Der Reichskanzler dankte den Vertretern des Handwerks für ihr Erscheinen.

Zur Frage der Lohnpolitik wies er auf die Lohnsenkungen hin, die bereits erfolgt seien. Daß die Spitzenorganisationen vor den angeführten Entscheidungen nicht gehört worden seien, beruhe auf ihrer Eilbedürftigkeit. Es sei angenommen worden, daß der Germania-Verband im engsten Benehmen mit den Spitzenorganisationen des Handwerks auftrete.

[703] Der Wechsel im Reichskommissariat habe auf einer ultimativen Forderung der Wirtschaftspartei beruht. Er sei überrascht, daß die Spitzenorganisationen des Handwerks nicht hinter ihr ständen.

Über die Besteuerung herrschten teilweise noch irrige Meinungen. Bei der Landwirtschaft habe es sich herausgestellt, daß die Einheitssteuer tatsächlich eine Entlastung bringe. Von prozentualer Steigerung dürfe nicht ausgegangen werden. Das ergebe sich aus den Unterschieden, die in Süddeutschland in der Realsteuer beständen. Württemberg habe die niedrigste Freigrenze in der Gewerbesteuer, Bayern und Baden hätten die niedrigste Belastung. Das habe bewirkt, daß sich die Industrie von den Nachbarländern nach Württemberg gewendet hätte. Württemberg habe die gesündesten Finanzen, auch in den Gemeinden. Bayern bedürfe des Zuschusses aus Reichsmitteln, weil die Realsteuern zu niedrig seien. Die neue Steuerart werde sich durchsetzen.

Es sei dringend erwünscht, daß das Handwerk mit der Regierung in einer Linie gehe hinsichtlich des Preisabbaus. Dadurch würden Zwangsmaßnahmen vermieden werden, die nur bei absolutem Widerstand Platz greifen sollten. Notwendig seien Verhandlungen über freiwillige Preissenkungen in den einzelnen Städten und Gemeinden. Die Preisunterschiede, insbesondere im Fleischer- und Reparaturgewerbe, seien außerordentlich groß. In der Reichstagsrede vom 5. Dezember habe er schon auf die Gefährlichkeit des Käuferstreiks hingewiesen13. Vor einer endgültigen Erklärung müsse aber noch eine Anzahl von Maßnahmen abgewartet werden. Es müsse ein gewisser Wandel in den Auffassungen über die Preisbildung eintreten. Je schneller die Preise freiwillig gesenkt würden, desto eher könnte die Regierung eine zusammenfassende Darstellung darüber geben, daß nach ihrer Ansicht dann das Höchstmaß der Preissenkung erreicht sei. Notwendig sei ein Aushang der Preise in den Geschäften auf Grund freiwilliger Vereinbarungen, die von den Organisationen in die Wege geleitet werden möchten. Es wäre zweckmäßig, darüber mit dem Reichswirtschaftsministerium zu verhandeln.

13

Vgl. RT-Bd. 444, S. 308 .

Die Termine der Wohnungszwangswirtschaft seien gesteckt, um die Umstellung auf die private Initiative zu ermöglichen. Vielleicht könnten bereits im Jahre 1931 die Vierzimmer-Wohnungen vom Zwange befreit werden, möglicherweise auch die Dreizimmer-Wohnungen.

Die Bestimmungen über den gemeinnützigen Wohnungsbau seien durch die Länder veranlaßt worden, die Reichsregierung habe dagegen nichts ausrichten können.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg wies darauf hin, daß er sich 1925 bemüht habe, den Frontalangriff gegen die Organisationen zu verhindern, und daß er auch jetzt den Eindruck habe, von diesen Angriffen müsse abgesehen werden. Allerdings müsse der Regierung im Notfall die Möglichkeit des Eingreifens erhalten bleiben. In diesem Sinne seien auch seine Ausführungen gegenüber dem Handwerk gemeint gewesen. Gegenwirkungen gegen die Schwierigkeiten im Fleischergewerbe und im Reparaturgewerbe müßten von den Spitzenorganisationen[704] in Angriff genommen werden. Die Berechnungsmethoden müßten sich umstellen. In der Kartellpolitik seien bereits Maßnahmen getroffen, die einen Druck auf die Preise zur Folge hätten. Wegen des Eisens habe der Reichswirtschaftsrat seine Beratungen zum Abschluß gebracht14. Das Ergebnis werde den Eisenverbänden übersandt; auch hier spielten die Bergarbeiterlöhne eine große Rolle. Würden die Kartelle zerschlagen, so würde die mittlere und kleine Industrie darunter leiden. Neue große Wirtschaftsgebilde wären die Folge. Es müsse behutsam vorgegangen werden. In der Auflockerung der Bindungen seien beachtliche Erfolge erzielt.

14

Der Arbeitsausschuß I des Vorl.RWiR hatte in seinem Abschlußbericht vom 25.11.30 eine baldige Eisenpreissenkung als Voraussetzung für die allgemeine Verringerung der Entstehungskosten gefordert (Vorl.RWiR, Drucks. Nr. 374, S. 48 f.).

Die Vertreter des Handwerks dankten dem Reichskanzler für die Aussprache.

Die Aussprache wurde hierauf geschlossen15.

15

Unter Bezug auf die Besprechung vom 9. 12. übersandte der Reichsverband des Dt. Handwerks am 15. 12. der Rkei Material über die Entwicklung der Brotpreise, das von dem Germania Zentralverband Dt. Bäcker-Innungen zusammengestellt worden war (R 43 I /1159 , Bl. 360–376).

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