Text
Nr. 184
Der Reichsernährungsminister an den Reichskanzler. 1. Dezember 1930
[Kritik des Kabinetts an der Politik des Reichsernährungsministers]
Hochverehrter Herr Reichskanzler!
Ich bitte Sie, mir zu gestatten, auf die gestrige Nachtsitzung des Kabinetts zurückkommen zu dürfen, die unter Ihrer und Herrn Dietrichs Leitung in einer für mich, soweit meine Agrarvorlage in Frage stand, höchst unerwünschten Weise verlief1. Auf die einzelnen Vorgänge in der Debatte will ich nicht eingehen. Ich will nur die Äußerung des Kollegen Curtius hervorheben, die von Ihnen unwidersprochen hingenommen wurde, nämlich, daß er die Holländer in Genf, die die Befürchtung geäußert hatten, daß die Butterzölle erhöht werden könnten, dahin beschieden hätte, daß eine Zollerhöhung nicht in Aussicht genommen sei. Ich weiß nicht, wer Herrn Curtius zu dieser Äußerung autorisiert hat. Herr Curtius rechtfertigte gewissermaßen etwaige holländische Boykottabsichten, falls wir das Recht der autonomen Zollerhöhung anwenden würden. Hier klafft es. Eine Brücke ist hier nicht zu schlagen. Überhaupt habe ich gestern Nacht die Überzeugung mit nach Hause nehmen müssen, daß ich mehreren Herren des Kabinetts und leider auch Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, mit meiner Landwirtschaftspolitik starke Unbequemlichkeiten bereite2. Aber die Zeit ist zu ernst und zu kostbar für solche Betrachtungen.[680] Ich will mich deshalb zusammenfassen und Ihnen in nochmaliger Prüfung der durch den Abschluß der gestrigen Kabinettsberatungen entstandenen Lage nachstehendes unterbreiten:
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S. Dok. Nr. 183.
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In einem Privatdienstschreiben an StS Heukamp vom 2.12.30 nahm StS Pünder zu der agrarpolitischen Kabinettsdiskussion vom 30. 11. Stellung. Unter Bezugnahme auf das Schreiben des REM an den RK führte Pünder u. a. aus: „Es ist ganz bestimmt nicht so, daß das Reichskabinett und vor allem Herr Reichskanzler Dr. Brüning in der Gesamthaltung agrarfeindlich oder gar auch nur agrarunfreundlich eingestellt wären. Solche Zeiten sind, glaube ich, in Deutschland vorbei. Schon das letzte Reichskabinett Müller hat ja anerkanntermaßen auf agrarpolitischem Gebiete Dinge mitgemacht, die noch vor gar nicht langer Zeit bei der Sozialdemokratie undenkbar gewesen wären. Was vielleicht, nicht im Verhältnis zu dem Herrn Reichskanzler, sondern zu dem einen oder anderen Kabinettsmitglied gegenwärtig eine gewisse gereizte Stimmung aufkommen läßt, liegt meines Erachtens fast ausschließlich auf dem Gebiete der Regie, der Menschenbehandlung und der Taktik. Sie werden selbst beobachtet haben, welchen Eindruck es eigentlich auf alle Kabinettsmitglieder gemacht hat, als sie sich in der letzten Kabinettssitzung gegen 1 Uhr nachts plötzlich einer Fülle neuester und wichtigster agrarpolitischer Anträge gegenübersahen […]. Wenn das Kabinett in der herkömmlichen und durch Geschäftsordnung seit Jahren festgelegten Form auch seitens des Reichsernährungsministeriums bedient wird, sind meines Erachtens etwa bestehende sachliche Schwierigkeiten schon gleich, mindestens zu 50%, überwunden. Was aber absolut vermieden werden muß, sind solche Feuerüberfälle, die die Quelle von Mißtrauen und Gereiztheit sind. Wenn ich Ihnen daher […] einen wirklich ehrlichen kollegialen Rat im Augenblick geben darf, so geht er dahin, der Reichskanzlei ungesäumt eine ordnungsmäßige Kabinettsvorlage nebst Begründung über die weitergehenden Wünsche und Absichten des Herrn Ministers zu übersenden […]. Ich hoffe, daß Sie, lieber Herr Heukamp, mir diese meine wohlwollenden Anregungen nicht verübeln werden, aber sie sind aus dem ehrlichen Bestreben geboren, auch mit meinen schwachen Kräften der Landwirtschaft in ihren Nöten und damit auch der Politik Ihres verehrten Herrn Ministers zu dienen. Ich habe dem Herrn Reichskanzler diesen Brief nicht vorgelegt, habe aber keinerlei Zweifel, daß er, was die materiellen Dinge wie auch ihre technische Erledigung angeht, genauso eingestellt ist wie ich […]“. Die Durchschrift dieses Briefes wurde vom RK abgezeichnet. Eine Abschrift schickte Pünder mit folgenden Zeilen an StS Meissner: „[…] Ich habe das Empfinden, daß Herr Minister Schiele durch die Art der Erledigung seiner agrarpolitischen Wünsche in der letzten Nachtsitzung etwas betreten ist und vielleicht wieder gesonnen ist, in Kürze politische Folgerungen anzumelden. Er sieht meines Erachtens die Dinge ganz falsch, und um ihm zu helfen, habe ich die anliegenden Zeilen geschrieben. Daß Sie Abschrift erhalten haben, habe ich nicht mitgeteilt“ (Durchschrift der Schreiben an Heukamp und Meissner vom 2.12.30 m Nachlaß Pünder, Nr. 134, Bl. 1–5).
Die bisherigen Agrarmaßnahmen der Reichsregierung dienten vor allem dem Ziele, die Lebensinteressen des Getreidebaues zu schützen und daneben den ebenso notwendigen Schutz für die bäuerliche Veredelungswirtschaft einzuleiten. Wenn auch die bisherigen Agrarmaßnahmen in ihrem zeitlichen Ablauf durch den Gang der Entwicklung entscheidend bestimmt wurden, so habe ich doch nie einen Zweifel darüber gelassen, daß die Reichsregierung den Interessen der Veredelungswirtschaft, die in erster Linie in den Händen der bäuerlichen Landwirtschaft liegt, in gleicher Weise ihre Fürsorge zuwenden muß wie dem Getreidebau. Sie erinnern sich, daß ich in dieser Hinsicht einen langen und schweren Kampf für die deutsche Milchwirtschaft aus Anlaß des deutsch-finnischen Handelsabkommens geführt habe3. Ich habe in den letzten Wochen Ihnen erneut die dringliche Notwendigkeit weiterer durchgreifender Maßnahmen auf dem Gebiete der bäuerlichen Landwirtschaft dargelegt4, und ich muß Sie in diesem Zusammenhange mit allem Ernste darauf hinweisen, daß die außerordentliche Verschärfung der Agrarkrise nunmehr in schnell zunehmendem Maße auch die bäuerlichen Wirtschaften West- und Süddeutschlands erfaßt. Nichts ist unrichtiger als die Behauptung, daß die gegenwärtige schwere Agrarkrise nur eine Krise der großen Wirtschaften und des Ostens sei. Das Gegenteil wird durch die schnell steigende Verschuldung in bäuerlichen[681] Wirtschaften bewiesen. Ich erachte es daher als meine dringliche und unabweisbare Pflicht, Ihnen zum Ausdruck zu bringen, daß ich entscheidendes Gewicht auf eine unverzügliche Aktion der Reichsregierung legen muß, die dem deutschen Bauerntum in unwiderleglicher Weise dartut, daß die Reichsregierung auch seinen Interessen die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt zuwendet.
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S. Dok. Nr. 99, P. 2, Dok. Nr. 105, P. 4, Dok. Nr. 109, P. 1.
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Vgl. Dok. Nr. 148, P. 4–6 und Dok. Nr. 149, P. 2.
Das Agrarprogramm, wie es nunmehr in der Notverordnung zur Veröffentlichung kommen soll, trägt nach der ganzen Sachlage der Interessen der bäuerlichen Wirtschaft nur in geringem Umfange Rechnung. Es würde daher innerhalb des deutschen Bauernstandes und zugleich beim deutschen Landarbeiter, insbesondere aber beim deutschen Siedler, eine berechtigte Erregung auslösen müssen, wenn nicht unmittelbar im Anschluß an die jetzige Notverordnung der unbedingte Wille der Reichsregierung eindeutig zum Ausdruck käme, den Schutz der ländlichen Veredelungswirtschaft praktisch zu verwirklichen.
Die Möglichkeit hierzu besteht durchaus, und es liegt nur am Reichskabinett, von ihr entschlossen Gebrauch zu machen. Die erste unaufschiebbare Maßnahme dieser Art ist der Ausbau der Schutzmaßnahmen auf dem Gebiete der Milchwirtschaft und der Vieh- und Schweinehaltung. Ich muß daher darauf bestehen, daß in diesen Fragen das Reichskabinett noch im Laufe dieser Woche eine klare und eindeutige Entscheidung trifft. Um jegliches Mißverständnis in der weiteren Behandlung dieser für mein Schicksal als Minister entscheidenden Angelegenheit von vornherein auszuscheiden, bitte ich Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, mir gütigst noch im Laufe des morgigen Tages mitzuteilen, ob Sie bereit sind, sich mit Ihrem ganzen persönlichen Einfluß innerhalb des Kabinetts für das Zustandekommen eines Gesetzentwurfes einzusetzen, der entweder die von mir gestern im Kabinett vorgeschlagene Ermächtigung für eine Zollmanipulierung auf dem Gebiete der Viehwirtschaft vorsieht oder die sofortige angemessene Erhöhung des Butter-, Quark- und Kaseinzolls, sowie der Zölle für Schweine und Schweinefleisch sicherstellt5.
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Eine derartige Ermächtigung konnte in den Akten der Rkei nicht ermittelt werden.
Ich glaube durch meine monatelangen Bemühungen auf eine enge und vertrauensvolle gemeinsame Erledigung der Agrarmaßnahmen mit Ihnen gezeigt zu haben, wie sehr mir daran liegt, mich nicht zum Sprecher einseitiger Forderungen der Landwirtschaft zu machen, sondern nur der Landwirtschaft ihr Lebensrecht im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft zu sichern. Ich weiche auch heute von dieser Linie nicht ab, bin aber gezwungen, eine unverzügliche Klarheit über den weiteren Kurs der Reichsregierung herbeizuführen. Nur wenn ich mit Bestimmtheit auf einen solchen Kurs rechnen kann, sehe ich die Möglichkeit zu weiterer erfolgreicher Zusammenarbeit mit dem Ziele, allmählich zu einer Überwindung der deutschen Gesamtnot zu gelangen. Ich darf in diesem Zusammenhang noch besonders darauf hinweisen, daß der Herr Reichspräsident in seiner Botschaft vom 18. März 1930 die Erhaltung und Förderung der Lebensfähigkeit gerade der bäuerlichen Betriebe besonders als Aufgabe der Regierungspolitik betont und hervorgehoben hat6.
[682] Sie werden begreifen, daß ich angesichts des Vertrauens, das mir der Herr Reichspräsident bei Übernahme meines Amtes bekundet hat7, Gewicht darauf lege, ihn vor einer endgültigen Entscheidung meinerseits zu unterrichten, und ich wäre Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, daher für eine gefällige Erledigung meiner Bitte noch morgen (Dienstag) besonders dankbar.
In aufrichtiger Verehrung und vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich stets
Ihr sehr ergebener
Schiele