Text
[770] Nr. 214
Staatssekretär Pünder an Staatssekretär v. Bülow. 3. Januar 1931
R 43 I/506, Bl. 209–210 Durchschrift
[Reparationsproblem]
Lieber Herr von Bülow!
[Pünder erwidert Bülows Neujahrswünsche].
Unter Bezugnahme auf den sachlichen Teil Ihrer heutigen Besprechung mit Herrn Planck1 darf ich nachstehend noch einige politische Gedanken zu den Dingen äußern, die sich während Ihrer kurzen Abwesenheit hier zugetragen haben.
Ich glaube gar nicht, daß unsere beiderseitigen Häuser in den Auffassungen auseinander sind, jedenfalls nicht, was den entscheidenden Punkt angeht. Ausgangspunkt der neuen Erwägungen ist die feststehende Überzeugung des Herrn Reichskanzlers, daß die reparationspolitische Lage sich während des ganzen Jahres 1931 weder privatwirtschaftlich noch staatsfinanziell halten läßt. Der Abzug von Auslandskapitalien, wenn auch nicht mehr in so starkem Maße wie nach der Reichstagswahl, hält nach wie vor an, und es wird immer mehr übereinstimmende Ansicht, daß der laufende Abzug der Reparationssumme ohne Hinterlassung eines entsprechenden Gegenwerts im deutschen Inland nicht nur auf die Dauer ruinös wirkt, sondern schon recht bald zur Katastrophe führen muß.
Dies war im wesentlichen der erste Leitsatz, über den sich der Herr Reichskanzler mit dem Auswärtigen Amt und wohl auch den anderen in erster Linie zuständigen Stellen einig glaubt. Der zweite Leitsatz geht dahin, daß die Möglichkeiten des Youngplans tatsächlich für uns keine Möglichkeiten sind2. Namentlich die Reichsbank, aber mit ihr, soviel ich sehe, auch alle anderen zuständigen Stellen würden in der Erklärung eines Moratoriums ruinöse Folgen sehen, ohne daß ein wesentlicher positiver Gewinn wenigstens für den Augenblick oder die nächste Zukunft sicher wäre. Und ob dann nicht über den beratenden Sonderausschuß3 eine Finanzkontrolle das Ende vom Liede wäre, wäre ferner noch zu befürchten.
Nachdem sonach über diese zwei wichtigsten Leitsätze Einigkeit erzielt war und hoffentlich auch erzielt bleiben wird, entstand die dritte Frage nach sonstigen Möglichkeiten. Der Gedanke einer politischen Weltkonferenz unter Führung des Präsidenten Hoover ist meines Wissens nicht eigentlich in der Wilhelmstraße entstanden4. Sollte sich herausstellen, daß dieser Weg nicht gangbar ist und ein anderweitiger dritter Vorschlag gemacht werden muß, so würde der Herr Reichskanzler gewiß für jede Anregung nach dieser Richtung sehr[771] dankbar sein. Nur dürfte es ihm notwendig erscheinen, daß eben anderweitige Vorschläge gemacht werden, da ein Vakuum an Stelle dieses dritten (gesuchten) Leitsatzes kaum erträglich wäre. Der Gedanke der großen Weltkonferenz scheint ja auch sonstwo zu spuken, jedenfalls deutete kürzlich ein Telegramm des Herrn Botschafters v. Hoesch über Besprechungen mit seinem englischen Kollegen Tyrrell (Nr. 1161 vom 20.12.1930) darauf hin5.
Damit bin ich mit meinem Latein für heute zu Ende. Mir lag nur daran, das Ausmaß unserer beiderseitigen Übereinstimmung durch diese wenigen Zeilen einmal festzulegen und in Ihnen nicht den Glauben aufkommen zu lassen, als wenn in unserem Hause über den dritten Leitsatz schon festgelegte Meinungen vorhanden wären. Zur Fortsetzung dieser Erörterung in mündlicher Aussprache stehe ich jederzeit besonders gern zur Verfügung. Ich habe selbstverständlich keine Bedenken, wenn Sie diese Zeilen, die ich im übrigen ohne Auftrag des Herrn Reichskanzlers geschrieben habe, auch Herrn Minister Curtius vorlegen wollen.
Mit herzlichen Grüßen bin ich
Ihr
treu ergebener
gez. Dr. Pünder