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[374] Nr. 100
Deutscher Industrie- und Handelstag an den Reichskanzler. 14. August 1930
Betrifft: Deutsch-finnischen Handelsvertrag
Die privaten Verhandlungen über die Abnahme finnischer Butter- und Käseüberschüsse sind gescheitert1. Vertretungen und Verbände der Landwirtschaft fordern die alsbaldige Kündigung des deutsch-finnischen Handelsvertrags und die Losbindung der deutschen Butter- und verschiedener Käsezölle gegenüber Finnland. Sie fordern dies im Zuge weitergehender Bestrebungen, die eine völlige Neuordnung der die Milchwirtschaft betreffenden Zölle zum Ziele haben2.
Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat in den letzten Jahren mit steigendem Nachdruck sich für die berechtigten Interessen der Landwirtschaft eingesetzt. Bei der neuen Bewegung aber handelt es sich nicht mehr um Interessen der Landwirtschaft, denen gegenüber nächste Interessen anderer Berufskreise zurücktreten müssen, es handelt sich um grundsätzliche Wendungen der deutschen Handelspolitik.
1. Die gescheiterte Privatabmachung verstieß gegen Sinn und Geist der Meistbegünstigung3. Handelsverträge durch Privatabmachungen möglich zu machen, ist immer schwierig. Wir lehnen diese Methode deshalb nicht etwa allgemein ab. Wir begrüßen sie, wo sie zum Ziele führt und nicht größere[375] Nachteile zur Folge hat. Die letzten Verhandlungen aber hatten zur Folge, daß Deutschland überall eines dolosen Verstoßes gegen die Meistbegünstigung bezichtigt wurde. Würde es sich nur darum handeln, daß man Deutschland mit mehr oder weniger Heuchelei einen Verstoß gegen eine Abweichung von akademischen Lehren des Völkerbundes oder der Internationalen Handelskammer nachsagen könnte, so würde dies kaum allzu schwer zu nehmen sein. In Wirklichkeit stand Deutschland in der Gefahr, den Ruf eines vertragstreuen zuverlässigen Handelsvertragspartners zu verlieren. Das aber würde für Deutschland auch wirtschaftlich unerträglich schwer wiegen.
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Auch der RdI hatte in seinem Schreiben vom 1.8.30 an den RK auf die Verletzung des Meistbegünstigungsprinzips durch private Abmachungen hingewiesen: „Als vor einigen Monaten sich Schwierigkeiten ergaben, das deutsch-finnische Zusatzabkommen vom 25. November 1929 zur Annahme zu bringen, […] ist von industrieller Seite gegenüber den Vertretern der Landwirtschaft, die sich gegen die erneute Festlegung des deutschen Käsezolles in dem erwähnten Zusatzabkommen aussprachen, angeregt worden, die Landwirtschaft möge nach dem Vorbild internationaler Vereinbarungen auf industriellem Gebiet den Versuch einer privatwirtschaftlichen Verständigung mit Finnland unternehmen. Da die hier in Frage stehenden industriellen Vereinbarungen handelspolitisch unangreifbar sind, durfte die Industrie erwarten, daß es möglich sein würde, ohne Berührung der Interessen anderer Staaten mit Finnland zu kommen. Diese Erwartung hat getäuscht. Die Abkommen, die aus langwierigen Verhandlungen mit Finnland schließlich hervorgingen, haben sofort zu heftiger Kritik in anderen Staaten geführt. Deutschland werden im Hinblick auf diese Abkommen illoyale Manipulationen zur Umgehung der Meistbegünstigung und damit Verletzung bestehender Handelsverträge vorgeworfen. Die Entrüstung im Auslande geht so weit, daß in mehreren nordischen Staaten, namentlich aber in Holland, eine planmäßige und – wie leider festgestellt werden muß – bereits wirksame Boykottbewegung gegen deutsche Waren eingesetzt hat. Unter diesen Umständen sieht sich der Reichsverband der Deutschen Industrie gezwungen, auszusprechen, daß die Reichsregierung keinerlei privatwirtschaftliche Vereinbarungen mit anderen Ländern fördern oder zulassen sollte, die Zweifel an der Vertragstreue des Deutschen Reiches aufkommen lassen. Für die deutsche Industrie, die in ihren Wirtschaftsbeziehungen mit der ganzen Welt aufs engste verflochten ist, ist der Grundsatz peinlichster Vertragserfüllung und unbedingten Vertrauens von entscheidender Bedeutung. Daher kann der Reichsverband der Deutschen Industrie das vorläufige Scheitern der privatwirtschaftlichen Verhandlungen mit Finnland nicht bedauern“ (R 43 I/1092, Bl. 252).
2. Eine Kündigung des deutsch-finnischen Handelsvertrages ist nicht mit dem Genfer Abkommen zu vereinbaren4. Die deutsche Regierung hat in Genf und nach Genf sich für dieses Abkommen eingesetzt. Sie befand sich dabei in der Gesellschaft fast aller europäischen Staaten. Die Zustimmung des Reichstags ist aus dessen Mitte beantragt worden und wäre ohne die politischen Zwischenfälle wohl alsbald zu erwarten gewesen5. Wechselt die deutsche Regierung nun ihren Standpunkt, so wird daraus überall auf eine grundsätzliche Wandlung der handelspolitischen Absichten der deutschen Regierung geschlossen werden. Die Vorstöße der deutschen Landwirtschaft, die eine grundsätzliche Neuordnung der milchwirtschaftlichen Zölle wünschten, werden diese Auffassung im Ausland verstärken. Wir glauben, daß gerade im jetzigen Augenblicke stärkste deutsche Interessen dagegen sprechen, einen solchen Eindruck im Auslande zu erwecken.
3. Die deutsche Ausfuhr ist in überraschend starker Weise angestiegen. Wir sind auf Steigen dieser Ausfuhr gegenwärtig stärker angewiesen denn je. Wenn die Ausfuhr trotz gesteigerter Bemühungen in den letzten Monaten über die jahreszeitlich bedingten Ziffern hinaus wieder etwas abflaute, so muß umso mehr vermieden werden, ihr handelspolitisch neue Schwierigkeiten zu schaffen. Eine den Forderungen mancher landwirtschaftlicher Vereinigungen entsprechende Änderung der milchwirtschaftlichen Zölle würde unzweifelhaft stärkste handelspolitische Hemmnisse solcher Art aufrichten. Es genügt hierfür auf Holland hinzuweisen, seine Bedeutung für die deutsche Ausfuhr, sein Interesse an Ausfuhr milchwirtschaftlicher Erzeugnisse und die schon auf längere Zeit zurückgehende gespannte mißtrauische Aufmerksamkeit, die es den Bewegungen der deutschen Handelspolitik entgegenbringt.
4. Eine tiefergreifende Änderung landwirtschaftlicher Zölle wird nicht ohne Folgerungen auf dem Gebiete industrieller Zölle sein können, sondern wird Wünsche und Anträge verstärken, die auf jener Seite bereits vorliegen. Damit kommt die gesamte deutsche Handelspolitik ins Schwanken. Daß solche Änderungen die Preisbildungsgründe in einem preiserhöhenden Sinne berühren, und zwar an einer viel tiefer liegenden Stelle als derjenigen der Preisbindungen, nämlich an der Stelle der allgemeinen regelmäßigen Preisbestimmungsgründe, der Kosten, des Angebots und der Nachfrage, bedarf keiner Begründung.
[376] Auch wir betrachten die Lage der deutschen Milchwirtschaft mit tiefer Sorge. Wir glauben, daß die Bestrebungen, ihr auf dem Wege staatlich geförderter Selbsthilfe durch Anpassung an die Marktbedürfnisse zu helfen, mit stärkstem Maße von Aktivität wie auch des Willens zur Überwindung von Schwierigkeiten und des Willens zur Ein- und Unterordnung auf seiten der Landwirtschaft fortgeführt werden müssen, mit einem stärkeren Maße solchen Willensaufwandes und danach wohl auch Erfolges, als es bisher zu bemerken war. Wir verkennen nicht, daß in Zusammenhang damit unter Umständen auch zollpolitische Maßnahmen erfolgen müssen, aber wir glauben, nicht allein vom Standpunkt nächster Interessen von Industrie und Handel zu sprechen, sondern die Gesamtbedürfnisse der deutschen Volkswirtschaft zu würdigen, wenn wir nachdrücklichst vor einer in diesem Zeitpunkt erfolgenden, übereilten, in ihren handelspolitischen und wirtschaftlichen Wirkungen besonders im Ausland nicht übersehbaren Maßnahmen zu warnen, wie es die Kündigung des deutsch-finnischen Handelsvertrages wäre.
Hamm