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Nr. 67
Fraktionsführerbesprechung vom 8. Juli 1930, 20 Uhr1
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Die Parteiführerbesprechung muß, entgegen der Angabe im Protokoll, vor 20 Uhr – wahrscheinlich im Laufe des Nachmittags – stattgefunden haben, da zu diesem Zeitpunkt das Kabinett tagte (Dok. Nr. 68). Nach Ausweis des Tagebuchs von StS Schäffer wurde die Besprechung unterbrochen und um 16 Uhr wieder aufgenommen (Nachlaß Schäffer, IfZ, ED 93, Bd. 9, Bl. 181). Dr. Scholz berichtete ab 16.55 Uhr vor der DVP-Fraktion über die Ergebnisse dieser Besprechung (R 45 II/67, S. 257).
Anwesend: von der Reichsregierung: Brüning, Dietrich, Stegerwald, v. Guérard, Schiele, Treviranus, Bredt; StS Trendelenburg, Pünder, Schäffer; MinDir. v. Hagenow, Zechlin, Ernst, Zarden, Dorn, Schwerin v. Krosigk; MinR Jacobsen; von den Parteien: für das Zentrum: Esser, Perlitius, Föhr; für die DVP: Scholz, Hoff, Cremer; für die DDP: Reinhold; für die Wirtschaftspartei: Drewitz, Colosser, Sachsenberg; für die ChrNAG: v. Lindeiner-Wildau; für die BVP: Leicht; Protokoll: MinR Vogels.
Der Reichskanzler setzte den Parteiführern auseinander, daß die Reichsregierung an ihren bisherigen Deckungsvorschlägen festhalte, daß sie aber[276] möglicherweise bereit sein werde, sich auf eine Ergänzung ihres Programms einzulassen, sofern die Parteien sich über gewisse Ergänzungen einig werden würden.
Der Abg. Scholz erklärte, daß seine Fraktion der Reform der Arbeitslosenversicherung zustimme, daß sie aber darüber hinaus den Wegfall des § 163 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes betreffend die unbeschränkte Darlehnspflicht des Reichs fordere2. Mit den Vorschlägen des Gesetzes über eine Reichshilfe der Personen des öffentlichen Dienstes und über einmalige außerordentliche Zuschläge zur Einkommensteuer, wogegen die Fraktion bekanntlich grundsätzliche Bedenken habe, würden sich seine Freunde nur abfinden bei gleichzeitiger gesetzlicher Einführung einer Bürgerabgabe. Auf die Bürgerabgabe könne die Deutsche Volkspartei unter keinen Umständen verzichten, schon allein wegen der steuermoralischen Wirkungen eines solchen Gesetzes.
Darüber hinaus halte die Fraktion über die Ersparnisse von 100 Millionen RM hinaus weitere Abstriche am Haushaltsplan für möglich.
Der Abg. Cremer erläuterte diese letzte Forderung dahin, daß nach Auffassung der Deutschen Volkspartei im Rechnungsjahr 1930 25 Millionen an der Osthilfe abgestrichen werden könnten, daß ferner durch eine weitere etatstechnische Kürzung um 40 Millionen RM erreicht werden könne, daß in dem Anleiheablösungsfonds nicht bares Geld, sondern Schuldverschreibungen des Reichs gelegt würden.
Der Abg. Esser erklärte, für das Zentrum bereit zu sein, über die Ergänzungswünsche anderer Fraktionen im Geiste der Verständigungsbereitschaft zu verhandeln. Das Zentrum sei insbesondere bereit, bezüglich des § 163 auf einen bereits im März zwischen den damaligen Regierungsparteien formulierten Antrag zurückzukommen, der wie folgt lautet:
„Übersteigt der Bedarf der Anstalt infolge unvorhergesehener Verschlechterung des Arbeitsmarktes die eigenen Mittel der Anstalt und den Zuschuß des Reichs, so tritt die Darlehnspflicht nach § 163 AVAVG ein, jedoch mit der Maßgabe, daß die Reichsregierung durch ein alsbald vorzulegendes Gesetz entweder durch Beitragserhöhung die Rückzahlung der Darlehen ermöglicht, oder zur Deckung der für die Darlehen aufzuwendenden Beträge dem Reich die notwendigen Einnahmen sicherstellt“ (Vgl. Niederschrift über die Parteiführerbesprechung vom 27. März 1930)3.
Weitere Abstriche am Etat halte das Zentrum nicht für möglich. Der Entwurf eines Gesetzes für eine Reichshilfe der Personen des öffentlichen Dienstes usw. könne durch die Einführung einer Bürgerabgabe auch nicht teilweise ersetzt werden. Darüber hinaus halte das Zentrum die Einführung einer Bürgerabgabe zur Zeit nicht für durchsetzbar.
Der Reichskanzler gab den Parteiführern darauf vertraulich Kenntnis von dem Beschluß des Reichskabinetts über die Einsparung von 100 Millionen im Etat, mit dem Hinzufügen, daß er Näheres über die einzusparenden Positionen[277] nicht sagen könne4. Eine Kürzung des Ostprogramms erklärte er für unmöglich.
Der Reichsminister der Finanzen erklärte, mit Bezug auf die in der Öffentlichkeit stark beachteten Vorschläge des Hansa-Bundes über Ersparnismöglichkeiten im Etat, daß bei diesen Vorschlägen drei Kategorien unterschieden werden könnten:
a) | sachliche Einsparungen, die ohne Gesetzesänderung möglich sind, |
b) | Abstriche, die in Wirklichkeit nur etattechnische Verschiebungen von Ausgaben auf eine spätere Zeit darstellen, |
c) | Abstriche auf Grund von Gesetzesänderungen. |
Von diesen Kategorien sei im Augenblick nur die erstere diskutabel. Bezüglich dieser Kategorie könne er feststellen, daß die Vorschläge der Reichsregierung sich von den vom Hansa-Bund genannten Summen nicht wesentlich unterschieden5.
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Zu den im Brief des Hansa-Bundes an den RK vom 14.6.30 genannten Einsparungsmöglichkeiten gehörten a) Haushaltsvoranschläge, die über den Etat von 1929 hinausgingen (z. B. für Post- und Telegraphengebühren, für die Unterhaltung der Dienstgebäude, für Umzugskosten etc.); b) die Verschiebung der Ablösung der Markanleihen und der Tilgung der Rentenmark sowie die Zurückstellung öffentlicher Bauvorhaben; c) die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Reichshaushalt und Sozialversicherung (R 43 I/2364, Bl. 281–288; vgl. Dok. Nr. 63, Anm. 5).
Zu dem Vorschlage, einen Teil der Mittel für die Osthilfe zu verschieben, erklärte er, daß es richtig sei, daß die angeforderten Mittel im Rechnungsjahre 1930 wohl nicht alle verbraucht werden würden. Trotzdem sei eine Kürzung der Etatansätze nicht möglich, da diese Position so ziemlich die letzte Reserve sei, um bei etwaiger weiterer Verschlechterung der Einnahmeseite Kassenschwierigkeiten zu begegnen.
Sodann wandte er sich nachdrücklich gegen den Vorschlag, den Anleiheablösungsfonds mit Anleihestücken zu dotieren, weil eine derartige Maßnahme eine starke Erschütterung des Vertrauens der Öffentlichkeit in den Kredit des Reichs im Gefolge haben würde6.
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Der Hansa-Bund hatte vorgeschlagen, das Anleiheablösungsgesetz in der Form umzugestalten, „daß die Altanleihe in festverzinsliche (5%) uneinlösbare Schuldtitel (Typ der früheren Preußischen Konsols) umgewandelt werden könne“ (R 43 I/2364, Bl. 185). Nach § 15 des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen vom 16.7.25 (RGBl. I, S. 137) hatte die RReg. einen jährlich gleichbleibenden Betrag in den Reichshaushaltsplan einzusetzen; der Betrag mußte einem Tilgungsfonds zugeführt werden. StS Schäffer notierte in diesem Zusammenhang folgende Äußerung des RFM: „Die Speisung des Anleihentilgungs-Fonds mit Reichsanleihen muß man sich als letztes Notmittel lassen. Wenn Sie mich zu diesen Dingen zwingen wollen, werde ich die Konsequenzen ziehen“ (Nachlaß Schäffer, IfZ, ED 93 Bd. 9, Bl. 174).
Der Reichskanzler erklärte sich bereit, der Forderung nach Änderung des § 163 AVAVG dahin entgegenzukommen, daß der Höchstbetrag der Darlehen des Reichs an die Reichsanstalt vom 1. April 1931 ab alljährlich im Haushaltsgesetz festgelegt werden soll.
Zu dem Vorschlage der Einführung einer Bürgersteuer führte er aus, daß die Bürgersteuer nur dann praktischen Wert habe, wenn sie in eine Relation zur Höhe der Realsteuern gebracht werde. Eine vernünftige Verwirklichung[278] dieses Zieles werde aber erst nach Verabschiedung des Steuervereinheitlichungsgesetzes möglich werden. Wenn dieser Gesichtspunkt außer acht gelassen werde, so komme bei der Bürgersteuer etwas ganz anderes heraus, als was mit dieser Steuer bezweckt werde. Er empfehle daher dringend, mit der Bürgersteuer zu warten. Die Reichsregierung werde sie alsdann im Herbst im Rahmen des geplanten großen Sanierungsprogramms bringen. Über das Herbstprogramm schon jetzt nähere Angaben zu machen, sei nicht möglich, weil die Reichsregierung entsprechende Vorlagen noch nicht ausgearbeitet habe und zu ihrer Ausarbeitung sehr sorgfältiger Vorarbeiten bedürfe. Wenn die Parteien sich, trotz aller entgegenstehenden Bedenken, gleichwohl schon jetzt auf eine Bürgerabgabe einigen wollten, so wolle die Reichsregierung diesen Wünschen nicht unbedingt widersprechen.
Der Abgeordnete von Lindeiner-Wildau forderte die klare Beseitigung des jetzt vorhandenen Defizits durch wirkliche Deckungsmaßnahmen, nicht durch etattechnische Verschiebungen einzelner Ausgabeposten.
Bezüglich der Bürgerabgabe regte er an, die Länder zu ihrer Einführung zu ermächtigen, ihnen aber keinen Einführungszwang aufzuerlegen. Bezüglich der Reichshilfe wünschte er eine unumwundene Zusage der Reichsregierung nach der Richtung hin, daß das Notopfer der Beamten nur der Auftakt für eine demnächstige Gehaltskürzung sei.
Der Abgeordnete Reinhold erklärte, daß seine Fraktion bereit sei, den Regierungsvorlagen zuzustimmen, sofern eine parlamentarische Mehrheit für ihre Durchbringung gesichert sei. Diese Zustimmung der Demokratischen Fraktion sei an die Forderung geknüpft, daß schon jetzt eine Gemeinde-Getränkesteuer eingeführt werde neben einer fakultativen Bürgersteuer.
Weiter stellte er die Forderung auf, daß den Gemeinden bei der Zuführung dieser beiden neuen Steuerquellen die Zurückführung der Realsteuern auf eine an einem zu bestimmenden Stichtag geltend gewesene Höhe gesetzlich zur Pflicht gemacht werde.
Mit dem Vorschlage des Reichskanzlers auf Ergänzung des § 163 AVAVG erklärte er sich einverstanden, indem er bemerkte, daß seine Fraktion es nicht für möglich halte, den § 163 schon jetzt ohne weiteres ganz außer Kraft zu setzen.
Der Abgeordnete Drewitz nannte als Hauptforderung seiner politischen Freunde, daß schon jetzt der Hebel zur Senkung der Ausgaben der Gemeinden angesetzt werde. Er forderte, daß den Gemeinden die Erzielung von Ersparnissen durch gesetzlichen Zwang auferlegt würde. Es müsse eine Sperre gegen weitere Erhöhungen der Realsteuern eingeführt werden. Die Bürgerabgabe müsse gestaffelt werden.
Im übrigen erklärte er sich mit der Deckung des Defizits auf der Grundlage der Regierungsvorschläge einverstanden.
Der Abgeordnete Leicht erklärte, daß nach der Auffassung seiner Fraktion eine Einigung der Parteien nur auf der Grundlage der Regierungsvorschläge gefunden werden könne. Die Durchbringung der Regierungsvorlagen sei nur bei völliger Einigung aller Regierungsparteien möglich.
[279] Der Reichskanzler richtete einen eindringlichen Appell an die Fraktionsführer, vor ihre Fraktionen zu treten und sie zu veranlassen, sich geschlossen hinter die Regierungsvorlage zu stellen. Er fügte hinzu, daß die Reichsregierung die bündige Stellungnahme der Fraktionen zur Regierungsvorlage im Laufe des kommenden Tages erwarte. Das Reichskabinett werde alsdann anschließend in einer Abendsitzung sich mit den Fraktionsbeschlüssen befassen und eine abschließende Stellung nehmen.
Das wesentliche Ergebnis der heutigen Aussprache fasse er, wie folgt, zusammen:
1. Die Reichsregierung sei bereit, die Erklärung abzugeben, daß die Streichungen im Haushalt 1930 mindestens 100 Millionen RM betragen sollen7.
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In einem Schnellbrief vom 9.7.30 teilte der RFM den einzelnen Ressorts die Kürzung ihrer Haushaltsansätze mit (R 43 I/2365, Bl. 194–197).
2. Unter der Voraussetzung der Zustimmung der hinter der Regierung stehenden Parteien zum Deckungsprogramm, sei die Regierung bereit, sich mit der Abänderung des § 163 AVAVG nach der Richtung abzufinden, daß der jährliche Höchstbetrag des Reichszuschusses im Haushaltsgesetz festgelegt werde. Die Reichsregierung werde die Angelegenheit am Vormittage des kommenden Tages beraten und daraufhin den Fraktionen einen formulierten Gesetzesvorschlag zuleiten.
3. Unter der gleichen Voraussetzung wolle die Reichsregierung sich mit der Einführung einer Bürgerabgabe abfinden, und zwar mit einer in wenigen Stufen gestaffelten Bürgerabgabe, die in einer Relation zur Höhe der Realsteuern gebracht werden müsse. Das Reichskabinett werde über einen formulierten Gesetzesvorschlag am kommenden Vormittag beraten und den Fraktionen vor den Fraktionssitzungen zugehen lassen8.
4. Die Zustimmung zur Reichshilfe, zum Einkommensteuerzuschlag und zur Ledigensteuer mache die Reichsregierung zur ausdrücklichen Bedingung.
5. Alle weitergehenden Finanzvorschläge der Parteien müssen bis zum Herbst dieses Jahres zurückgestellt werden.