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[169] Nr. 42
Vizepräsident des Reichstags Esser an den Reichskanzler. 28. Mai 1930
[Präsenz der Regierungsfraktionen bei Abstimmungen im Reichstag.]
Sehr verehrter Herr Reichskanzler!
Bei den Abstimmungen zum Wehretat1 und zum Postetat2, die ich zu leiten die Ehre hatte, ist es den Schriftführern und mir aufgefallen, wie schlecht die Bänke der Regierungsparteien besetzt waren. Es ist sehr häufig die Mehrheit für die Vorschläge der Regierung festgestellt worden, ohne daß diese Mehrheit tatsächlich vorhanden war. Die Gefahr besteht, daß bei irgendeinem Vorstoß der Opposition festgestellt wird, daß die Mehrheit auf der linken Seite steht. Die Abstimmung über die dritte Rate des Panzerkreuzers A konnte nur dadurch gerettet werden, daß ich selbst eine namentliche Abstimmung vorschlug3.
Da mit der Fortdauer der Reichstagsverhandlungen bis in die erste Juliwoche bestimt gerechnet werden muß, ist es dringend notwendig, daß die Führer der Regierungsparteien auf die Herren Abgeordneten im Sinne einer stärkeren Präsenz, namentlich bei den Abstimmungen, hinwirken. Ich bitte Sie im Interesse einer ruhigen Durchführung der Verhandlungen und Abstimmungen die Fraktionsführer entsprechend zu unterrichten4.
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In einem vom 20.6.30 datierten Schreiben wies der RK die Fraktionsvorsitzenden der in der RReg. vertretenen Parteien darauf hin, daß die „Abstimmungen über verschiedene Einzeletats in zweiter Lesung […] dadurch gefährdet worden [seien], daß in der Regel die Bänke der hinter der Regierung stehenden Parteien sehr schlecht besetzt waren. Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, daß des öfteren ein Vorstoß der Opposition zur Feststellung einer Mehrheit gegen die Regierung geführt haben würde. In einem Falle ist es nur durch den Vorschlag einer namentlichen Abstimmung gelungen, noch eine Mehrheit für die Regierung zu erzielen. Bei der besonderen Wichtigkeit der in den kommenden Wochen bevorstehenden Reichstagsverhandlungen möchte ich daher die dringende Bitte an die Herren Vorsitzenden der hinter der Regierung stehenden Fraktionen richten, die Herren Abgeordneten ihrer Fraktionen nachdrücklich zu ersuchen, bei allen Abstimmungen zugegen zu sein. Insbesondere wäre ich dafür dankbar, wenn schon jetzt Vorsorge getroffen würde, daß auch während der letzten Wochen der Reichstagsberatungen, die sicherlich noch bis in den Juli hinein geführt werden müssen, die Fraktionen größtmögliche Präsenz aufweisen“ (Konzept des Schreibens in R 43 I/1011, Bl. 244).
Mit hochachtungsvollem Gruße
Ihr sehr ergebener
Thomas Esser