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Nr. 113
Vermerk des Staatssekretärs Pünder über ein Telefongespräch mit dem geschäftsführenden Präsidiumsmitglied des RdI, Kastl. 15. September 1930
Herr Geheimrat Kastl vom Reichsverband der Deutschen Industrie rief mich heute aus Sorge um die weitere politische Entwicklung nach den gestrigen Reichstagswahlen an. Damit keine Irrtümer aufkämen, lege er Wert darauf, von vornherein festzustellen, daß der Reichsverband der Deutschen Industrie absolut der Auffassung sei, daß die Regierung dafür sorgen müsse, ihr gutes Reformprogramm parlamentarisch im neuen Reichstag zu verankern. Das sei aber nach Lage der Dinge nur nach links hin möglich. Ich entwickelte ihm darauf die Gedankengänge, wie sie nach meiner Meinung augenblicklich der Herr Reichskanzler habe, und von denen er nach einer heutigen Rücksprache mit dem Herrn Reichspräsidenten in der morgigen Ministerbesprechung Mitteilung machen wolle. Alles in allem glaubte ich Herrn Kastl versichern zu können, daß die Auffassung der Reichsregierung mit der des Reichsverbandes durchaus übereinstimmen werde. Nur werde es wahrscheinlich nicht gut sein, sofort nach dieser Richtung offizielle Schritte zu tun, sondern umgekehrt das materielle Reformprogramm der Reichsregierung weiter zu entwickeln mit dem Ziele, die Dinge bei der parlamentarischen Behandlung dieses Reformprogramms sich zwangsläufig entwickeln zu lassen. Außerdem scheine es mir sehr zweifelhaft, ob eine große Koalition der alten Form möglich sei, da hiergegen doch von verschiedensten Seiten die schwersten Bedenken bestehen würden.[428] Was meines Erachtens dagegen möglich und notwendig sei, sei eine Zusammenfassung aller zur Mitarbeit bereiten Kräfte, also eine Hinzuziehung der Sozialdemokraten, wie auch den Fortbestand der engen Zusammenarbeit mit den drei neuen konservativen Gruppen1.
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Gemeint sind wohl der ChrSVD, die KVP und die Dt.-Hann. Partei, die sich zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammenschlossen.
Herr Geheimrat Kastl war durch vorstehende Darlegungen meinerseits sehr beruhigt und fügte noch hinzu, daß er dem Herrn Reichskanzler jederzeit zur Aussprache zur Verfügung stünde sowie auch zu einer Unterstützung der Reichsregierung durch den Reichsverband.
Am heutigen Abend rief mich dann Herr Kastl nochmals an und teilte mir mit, daß er inzwischen auch mit dem Präsidenten des Reichsverbandes, Herrn Geheimrat Duisberg, sowie den stellvertretenden Vorsitzenden Frowein, Krämer und Müller-Oerlinghausen gesprochen habe. Alle diese genannten Herren seien der gleichen Auffassung, wie wir sie in unserer Mittagsbesprechung aufgestellt hätten. Der gleichen Auffassung sei auch der Bankier Max Warburg in Hamburg, mit dem er soeben telephoniert habe, sowie zweifellos auch Herr Silverberg, der als einziger stellvertretender Vorsitzender des Reichsverbandes augenblicklich abwesend sei. Er lege besonderen Wert auf diese Feststellungen, weil heute abend in einer Notiz der Börsenzeitung angedeutet sei, daß es vielleicht doch noch möglich sei, die politischen Geschäfte in Deutschland mit der radikalen Rechten zu leiten2.
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In einem Brief an Silverberg vom 19. 9. bewertete Kastl die politische Situation nach der RT-Wahl folgendermaßen: „Ich sehe noch keine Möglichkeit für eine Majoritätsregierung, weder nach links noch nach rechts, und es wird wahrscheinlich dazu kommen, daß die Regierung unter einer stillschweigenden Duldung der linken Seite vor den Reichstag tritt. Meines Erachtens kann sie das aber gar nicht, ohne daß sie dem Reichstag ein radikales Reformprogramm vorlegt, in dem mit brutaler Offenheit das gesagt wird, was für die politische und wirtschaftliche (auch finanzielle) Führung notwendig ist. Kommt der Antrag für ein Mißtrauensvotum, so wird dieses ohne weiteres angenommen, auch wenn sich die Sozialdemokraten der Stimme enthalten, und dagegen stimmen werden sie wohl kaum. Die Situation ist denkbar verfahren, und es ist schwer, irgendwelche Pläne für die Zukunft zu machen. Ich glaube aber, wenn die Regierung nicht den Mut hat, dem Reichstag ein solches Programm vorzulegen und mit diesem Programm zu stehen oder zu fallen, dann stehen wir im Falle der Annahme des Mißtrauensvotums vor einem völligen Trümmerhaufen und haben auch noch nicht einmal eine Idee für die Zukunft, an der wir uns aufrichten können“ (Nachl. Silverberg Nr. 235, Bl. 181).
Pünder