2.75 (bru1p): Nr. 75 Vermerk des Staatssekretärs Pünder über die Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung. 12. Juli 1930

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Nr. 75
Vermerk des Staatssekretärs Pünder über die Anwendung des Artikels 48 der Reichsverfassung. 12. Juli 1930

R 43 I /1870 , Bl. 162–163

Auf Wunsch des Herrn Reichskanzlers habe ich heute morgen Herrn Staatssekretär Dr. Joël die Frage vorgelegt, ob die Anwendbarkeit des Art. 48 nach seiner Auffassung auch dann ausgeschlossen sei, wenn die materielle Deckungsvorlage der Reichsregierung schließlich die Zustimmung des Reichstags gefunden haben würde und in den der 3. Lesung vorangegangenen Abstimmungen (Ausschuß und 2. Lesung) auch schon gefunden hätte, aber, in der 3. Lesung aus dem Grunde schließlich abgelehnt worden wäre, weil sie durch eine Junktimbestimmung mit einer dem Reichstag nicht genehmen anderweitigen gesetzgeberischen Maßnahme (z. B. der Bürgerabgabe) verkuppelt worden[304] wäre. Herr Staatssekretär Dr. Joël sagte mir sofortige sorgfältige Prüfung zu. Persönlich äußerte ich mich ihm gegenüber dahin, daß nach meiner persönlichen sorgfältigen – aber natürlich nicht so maßgeblichen – Prüfung der Frage in diesem Falle durchaus mit Art. 48 vorgegangen werden könne, da es nicht auf einen formellen Beschluß des Reichstags, sondern auf den erkennbaren materiellen Willen des Reichstags ankomme.

Herr Staatssekretär Dr. Joël hat mir nun heute abend nachstehende Ergänzung seines Gutachtens übersandt, von der er mitteilte, daß er sie auch eingehend mit Herrn Staatssekretär Zweigert durchgesprochen habe, der mit ihm völlig gleicher Auffassung sei.

„Wenn man unter Berücksichtigung der tieferen Bedeutung des dritten Absatzes des Art. 48 – an dieser Auffassung wird nach wie vor festgehalten – es für bedenklich hält, wenn der Reichspräsident eine Diktaturmaßnahme treffen wollte, die der Reichstag im Wege der ordentlichen Gesetzgebung zu treffen bereits ausdrücklich abgelehnt hat, so sind doch Fälle denkbar, in denen der Reichstag eine Vorlage offensichtlich nicht deshalb ablehnt, weil er ihren materiellen Inhalt nicht billigt, vielmehr aus anderweiten Gründen, die mit dem materiellen Inhalt der Vorlage nichts mehr zu tun haben. In derartigen Fällen liegt kein materiell ablehnender Beschluß des Reichstags vor, der bei Anwendung des Artikels 48 berücksichtigt werden müßte.

Deshalb wird hier geprüft werden müssen, ob aus den Beratungen und Abstimmungen des Steuerausschusses und des Reichstagsplenums über die Regierungsvorlage entnommen werden kann, daß der Reichstag den Inhalt der Vorlage an sich nicht materiell mißbilligt hat. Wird diese Frage bejaht, so besteht im Hinblick auf Abs. 3 des Art. 48 kein Bedenken, die vom Reichstag schließlich abgelehnte Vorlage zum Gegenstand einer Verordnung auf Grund des Abs. 2 des Artikels 48 zu machen. Selbstverständlich müssen aber im übrigen die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 48, wie sie in der früheren Aufzeichnung mitgeteilt sind, gegeben sein.“

Pünder

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