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Berlin.- Marie Juchacz eine Rede haltend. Transparent "Freiheit...." an zerstörter Fassade

Die Kundgebung der UGO vor der TU an der Charlottenburger Chaussee. Am Rednerpult Maria Juchacz, ehem. sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, Quelle: BArch, Bild 183-S84767 / Rudolph, T.

Erste Rede einer Frau vor einem deutschen Parlament

Als am 19. Februar 1919 die SPD-Politikerin Marie Juchacz (1879–1956) als Rednerin vor die Nationalversammlung in Weimar trat, war dies ein besonderer Moment.

  • [Abgebildet ist ein Ausschnitt des Berliner Tageblatt, in dem eine Zusammenfassung der Sitzung der Nationalversammlung vom 19. Februar 1919 erschienen ist. Einige Zitate der Reden wurden fett hervor gehoben.]  [Handschriftliche Ergänzung: x Brl Tagebl 80n 20. Februar 1919.]  Abg. Frau [unterstrichen: Marie Juchacz] (sog.): Meine Herren und Damen! (Aha und Heiterkeit) Der Revolution verdanken wir unsere Sitze im Parlament. Wir danken nicht im althergebrachten Sinne dafür. Die Revolutionsregierung tat damit nur ihre Pflicht, denn die Deutsche Demokratie war ohne die deutschen Frauen nicht möglich. Als Sozialdemokratin aber freut es mich, daß es eine sozialdemokratische Regierung war, die die deutschen Frauen von der politischen Unmündigkeit befreit hat. (Beifall links.) Für Deutschland ist die Frauenfrage damit gelöst. Die neuen Rechte können uns nicht wieder genommen werden. Wir werden aber niemals unser Frauentum verleugnen, weil nun auch wir in die politische Arena gestiegen sind. (Allseitiger Beifall.) Bei Beratung der neuen Verfassung werden wir dafür zu sorgen haben, daß nun auch [fett gedruckt: in der Verwaltung die Frau als gleichberechtigt mit herangezogen wird.]  Vor allem gilt das für die Jugendpflege, für die allgemeine Volksbildung und für die viele Zweige der Wohlfahrtspflege. (Beifall.) Wir fordern eine Ausbesserung der Bezüge unserer Alters- und Invalidenrentner. (Zustimmung.) Das Wirtschaftsleben muß bald gesunden. Wir Frauen und Mütter wissen am besten, wie tief wir ins Elend geraten sind: Da bedarf es zielbewußter Arbeit unter gleichberechtigter Mitwirkung der deutschen Frau. (Beifall.) Das sollten auch die bisherigen Gegner der politischen Frauenbetätigung einsehen, denn es wäre ein vergebliches Bemühen, den Zug der Zeit aufzuhalten. Graf Posadowsky fragt, was unter Junkerherrschaft zu verstehen sei. Das weiß alle Welt. (Lebh. Zustimmung b. d. Mehrheit.) Der Herr Graf möge einmal bei den Deutschen Frauen anfragen. Da wird er sicher die richtige Antwort bekommen. Wir müssen uns den Waffenstillstand gefallen lassen, weil der Krieg nach Ihrer (zur Rechten) Politik geführt wurde. (Unruhe rechts. Lebhafte Zustimmung bei der Mehrheit. Präsident Fehrenbach ersucht, die Unterhaltung hinter dem Präsidialtisch nicht mit solcher Lebhaftigkeit zu führen, daß dadurch die Verhandlungen gestört werden. Allseitige Zustimmung im Hause.) Die vielen Verbrechen von heute sind nicht erst durch die Revolution gekommen, auch schon unter dem alten Regime haben sich während des Krieges Raub, Mord, Diebstahl und Verbrechen aller Art in erschreckender Weise breitgemacht. (Unruhe und Widerspruch rechts. Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Die Unterdrückung der Presse in der heutigen Form billigen wir durchaus nicht, aber wo war denn die Freiheit der Presse während des Krieges unter dem alten Regime? (Sehr gut! links.) Immer wieder müßte gegen die Knebelung der Presse protestiert werden. (Lebhafte Zustimmung links.) Auch die Versammlungsfreiheit war unterbunden. (Sehr wahr. links.)  [fett gedruckt: Der Grundsatz, "Dem Tüchtigen freie Bahn!" wurde unter dem alten Regime niemals verwirklicht.] Nicht einmal ein sozialdemokratischer Nachtwächter war vor der Revolution möglich. Die Beamtenschaft hat die Revolution mit einem befriedigenden Aufatmen begrüßt. Sie wird auch wirtschaftlich unter dem neuen Regime besser fahren als bisher. Das befreite Deutschland sendet seinen Volksgenossen, die noch immer in Kriegsgefangenschaft im Auslande schmachten müssen, brüderliche Grüße. (Beifall.) Im Namen der Menschlichkeit muß gefordert werden, daß sie baldigst ihren Familien und der Heimat zurückgegeben werden. (Beifall Zuruf bei den U. Soz.: Auch die Russen! Unruhe bei der Mehrheit.) Es ist das Furchtbarste, was die Gutente sich noch in dieser Stunde zuschulden kommen läßt, daß sie das wehrlose deutsche Volk noch weiter dem HUngertode überliefert. Die Völker der ganzen Welt sollten zusammenwirken, um der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Siege zu verhelfen. (Lebhafter Beifall.) Abg. Mayer-Kaufbeuren (Zentr.): Wir begrüßen die Zusammenarbeit von Mann und Frau in diese Hause. Möge sie von Glück und Segen für unser Volk und Vaterland sein! (Beifall.) Was im Regierungsprogramm an Sozialisierungsplänen enthalten ist, wird vom Zentrum seit Jahrzehnten auch verlangt. Für uns ist also in dem Regierungsprogramm nicht das geringste neue enthalten. Nun zur wirtschaftlichen Lage. Die definitiven Friedensverhandlungen dürfen nicht allein vom militärischen Standpunkte aus geführt werden. Die deutsche Volkswirtschaft ist sehr krank. Finde nwir den Anschluß an die neue Ernte nicht. So müssen Millionen Deutsche verhungern. Ein Defizit von 1,7 Milliarden bei den preußischen Eisenbahnen ist ein Sturmzeichen für die Lage der deutschen Volkswirtschaft. Wir leben heute auch wirtschaftlich in unverantwortliche Weise von den allerletzten Reserven. (Sehr wahr! i. Zentr.) Nur die sofortige Beseitigung der Ostseeblockade und die rasche Herbeiführung des Borfriedens und des definitven Friedens kann uns retten. Wird das jetzige System unserer Abwürgung nicht alsbald beendet, si ist die Katastrophe für das deutsche Volk unvermeidlich.  Unsere Finanzlage wird wie ein Bleigewicht an den Gliedern unseres Wirtschaftskörpers hängen. Der Herr Reichsfinanzminister hat uns ja mit dankenswerter Offenheit die entsprechenden Zahlen genannt. Eins der dunkelsten Kapitel  sind die Milliardenverluste an Heeresgut. Für die Verwertung der Reste dieses Heeresgutes ist ein Reichsverwertungsamt geschaffen worden. Wir möchten bei der Gelegenheit den Wunsch aussprechen, daß weder die Kriegsgesellschaften verewigt werden, noch etwa neue Gesellschaften ähnlicher Art ins Leben gerufen werden. (Beifall im Zentrum.) Die Kosten der Unterhaltung der Arbeiter- und Soldatenräte betragen nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 70 Millionen Mark jährlich. (Hört, hört!)Daß die gewaltigen Mehrbelastungen unmöglich durch Steuern aufgebracht werden. können, liegt auf der Hand. Dabei wissen wir noch gar nicht was wir an  [fett gedruckt: Entschädigung an unsere Feinde]  werden zu zahlen haben. Von den phantastischen Summen, wie sie in der feindlichen Presse genannt worden sind, kann allerdings keine Rede sein. Wir haben uns nur zu Entschädigungen verpflichtet für die durch unsere Angriffe in den besetzten Gebieten verursachten Beschädigungen, und die werden 10 Milliarden kaum überschreiten. Die Kosten dieses Krieges werden alle Kriegsführenden im wesentlichen selbst zu tragen haben, wenn auch Deutschland den Löwenanteil wird tragen müssen. Unsere finanzielle Lage ist außerordentlich betrübend und sie wäre trostlos, wenn die fast 100 Milliarden Kriegsanleihe eine Schuld an das Ausland darstellen würden. Daß das nicht der Fall ist, ermöglicht es allein, an einen Wiederaufbau Deutschlands zu glauben. (Beifall. Bei den Kriegslieferungen sind Milliarden verschleudert worden. Eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft wird der Wiederaufbau unserer Exportindustrie sein. Eine scharfe Kontrolle der Einfuhr wird sich nicht umgehen lassen. (Beifall.) Im Innern wird die Bodenpolitik eine Hauptrolle spielen. Von der Heimatscholle muss die Gesundung ausgehen. (Beifall.) Die Grundelemente unserer Ernährung: Getreide, Kartoffeln und Fleisch werden noch auf Jahre hinaus planmäßig veranschlagt, produziert und verteilt werden müssen. Die Schafzucht muss bedeutend vermehrt werden, es muß versucht werden, als Ersatz für die animalischen Fette möglichst pflanzliche Fette zu beschaffen. Vielleicht wird auch bis zu einem gewissen Grade ein Verbutterungsverbot notwendig sein, denn Milchnot bedeutet Kindertod. Vor allen Dingen gilt es, [fettgedruckt: in der Heimat landwirtschaftliches Neuland zu schaffen.]  Noch harren hunderttausende von Hektaren der Erschließung. Wir fordern alsbaldige Feststellung und Schutz der noch im Lande befindlichen Vorräte. In der Uebergangszeit ist kein Raum für kapitalistische und sozialistische Träume und Experimente. Die Verhinderung der Arbeitswilligen durch Spartacisten darf keinen Tag länger geduldet werden. (Lebhafte Zustimmung!) Angesichts dieser Uebergriffe ist eine weitere Stärkung der deutschen Reichswehr unerläßlich. (Beifall im Zentrum.) Das ganze deutsche Volk muß zu einer einfacheren Lebenshaltung zurückkehren. Ueber dem deutschen Vaterland müssen die Worte stehen: "Die Arbeit ist eine sittliche Pflicht." (Beifall.)  [fett gedruckt: (Den Schluß des Berichts veröffentlichen wir im 1. Beiblatt. Die Red.)]
    Zusammenfassung der Sitzung der Nationalversammlung vom 19. Februar 1919 (Ausschnitt) im Berliner Tageblatt vom 20. Februar 1919<br />  

Als am 19. Februar 1919 die SPD-Politikerin Marie Juchacz (1879–1956) als Rednerin vor die Nationalversammlung in Weimar trat, war dies ein besonderer Moment: Nach der Einführung des Frauenwahlrechts mit Inkrafttreten des Reichswahlgesetzes vom 30. November 1918 hielt erstmals eine Frau eine Rede in einem deutschen Parlament.

Die Reaktion auf die Eröffnung ihrer Rede mit den Worten: „Meine Herren – und Damen!“ war laut Protokoll und einem Bericht im Berliner Tageblatt vom 20. Februar 1919 „Aha und Heiterkeit“. Zu Beginn ihrer Rede thematisierte sie die Frauenfrage:

„Es ist das erste Mal, daß in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, daß es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“

Reichstagsprotokolle, 1919/20,1 // 11. Sitzung der Nationalversammlung, 19. Februar 1919

Marie Juchacz gehörte von 1920 bis 1933 dem Reichstag an. Unter ihrem Vorsitz wurde am 13. Dezember 1919 die Arbeiterwohlfahrt gegründet.

  • Wahlkampf der Sozialdemokraten in Berlin im Januar 1919
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  • Schwarz-Weiß-Aufnahme einer Menschenschlange entlang der Vorderfront eines historischen Gebäudes
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    Zum vollen Wortlaut der Rede in den Protokollen des Reichstages