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Nr. 45
Ministerbesprechung vom 16. Januar 1923, 18 Uhr
R 43 I/205, Bl. 206 f. Abschrift1
Anwesend: Cuno, v. Rosenberg, Oeser, Hermes, Becker, Heinze, Geßler, Stingl, Groener, Albert; PrMinPräs. Braun, PrFM v. Richter, PrIM Severing,[147] PrHandM Siering; StS Hamm2, Müller, Stieler, Geib, Brugger; General v. Seeckt; MinDir. Meissner, Pressechef Heilbron3; [Reichskohlenkommissar Stutz]. Zugezogen waren zum Bericht über die Lage im Essener Gebiet: Amtsrichter Thomas und Herr Osius.
Herr Thomas berichtet über die Verhandlungen zwischen der französischen Besatzungsmacht und Zechenvertretern4. Die Aussprache ergab volle Übereinstimmung über die Haltung der Zechenbesitzer.
[148] Amtsrichter Thomas wünscht Widerstand auch von Seiten der Reichsbahnverwaltung.
Staatssekretär Stieler berichtet über die bisherigen Anordnungen der Besatzungsbehörde5 und erklärt, daß bisher besondere Weisungen vom Reichsverkehrsministerium mangels einer bestimmten Richtlinie des Kabinetts nicht ergangen seien.
Reichswehrminister Dr. Geßler hält demgegenüber zeitige Beratung der Dinge und bestimmte Anträge der Ressorts für notwendig.
Reichspostminister Stingl weist darauf hin, daß der öffentliche Nachrichtenverkehr nicht eingestellt werden könne, wohl aber sei angeordnet worden, daß das Ersuchen der Besatzungsmacht auf Errichtung von Anlagen für ihre Zwecke nicht erfüllt werde.
Nach Weggang der Herren Thomas und Osius wird weiter besprochen:
Fußnoten
- 1
Das Protokoll fehlt im betr. Band der Kabinettsprotokolle (R 43 I/1382); eine weitere Abschrift findet sich in R 43 I/34, Bl. 361 f..
- 2
Ein Protokollführer wird nicht angegeben; in der Abschrift ist das Protokoll auch nicht unterzeichnet; doch kommt nach der Anwesenheitsliste nur Hamm als Protokollführer in Frage.
- 3
Die Ernennung eines neuen Pressechefs hatte sich als schwierig erwiesen. MinDir. Heilbron, der bereits unter Fehrenbach Pressechef gewesen war, hatte zunächst gezögert, das Amt des Pressechefs wieder zu übernehmen. In einer handschriftlichen Notiz versicherte er StS Hamm am 10. 1., „daß ich auch ohne Berufung auf den Posten an der Spitze der Presseabteilung dem Herrn RK und Ihnen für jeden Sonderauftrag zur Verfügung stehen würde, und ich persönlich möchte glauben, daß ich in der Weise vielleicht nützlicher wirken könnte.“ Aus einer Rücksprache Hamms mit Heilbron ergibt sich lt. handschriftlicher Aufzeichnung Hamms: „Bereit, Amt des Pressechefs zu übernehmen. Nicht einhellige günstige Aufnahme zu erwarten; ‚mein Freund und Gegner Bernhard‘. Vielleicht gelte ich als etwas verbraucht. Gegenwärtige Tätigkeit in der Kulturabteilung [des AA] würde ich gern beibehalten; Vertretung durch Vortr. Rat. […]. Aus der Presse weiß ich niemand zu benennen, wenn man nicht an einen der Chefredakteure (Bernhard?) denkt. Sonst wären durchaus geeignet: Gesandter Riezler (der seinerseits gesprächsweise einmal auf Herrn v. Bülow verwies), GehR Kempner, wohl aber auch GehR Schmidt-Elskop, der gutes Ansehen hat und sich in Technik und Betrieb sehr gut eingearbeitet hat. Notwendig m. E. täglicher Vortrag mit StS zusammen beim Herrn RK – wie natürlich auch beim Herrn RAM –; als zweckmäßig bewährte sich auch Vortrag beim Herrn RPräs. Personalverringerung in erheblichem Umfang ohne wesentliche Änderung der Organisation im Zusammenhang mit Organisationsänderung der Abt., von der jetzt abzuraten, kaum möglich. Man müßte dann die Einteilung der Abt. in Ländergruppen aufgeben. Beseitigung der Presseberichte nicht zweckmäßig; völlig unzweckmäßig wäre Trennung von äußerer und innerer Politik.“ (R 43 I/1774, Bl. 113; 114 f.). Über die Organisation und den Personalbestand der Presseabteilung gibt eine vierseitige Übersicht Auskunft (R 43 I/1774, Bl. 126-129). Mit Schreiben vom 16. 1. dank der RK Schmidt-Elskop für seine bisherigen Dienste als Leiter der Presseabteilung (R 43 I/2646, Bl. 39). Er wird im März zum Gesandten in Montevideo ernannt.
- 4
S. Anm. 2 und 3 zu Dok. Nr. 44. – Nach der Ablehnung des frz. Befehls, entgegen den Anweisungen des Reichskohlenkommissars Kohlen zu liefern, fanden im Haus des Kohlensyndikats, in dem die Micum ihre Büros eingerichtet hatte, am 16. 1. zwei Sitzungen mit Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer statt, jeweils im Beisein von RegPräs. Grützner und unter Leitung von General Simon in Anwesenheit von General Denvignes und der Mitglieder der Micum. Den Arbeitgebervertretern wurde der Befehl Degouttes verlesen, den Anordnungen der Besatzungsbehörden zu folgen und die Kohlenlieferungen am 17. 1. wieder aufzunehmen. Als erste Zwangsmaßnahme gegen das Lieferungsverbot der RReg. sei die Besetzung auf Dortmund ausgedehnt worden; weitere Zwangsmaßnahmen würden folgen, sofern die Lieferungen nicht aufgenommen würden. Eine Diskussion wird von frz. Seite abgelehnt (Aktennotiz in R 43 I/203, Bl. 312; Aufzeichnung bei Spethmann: 12 Jahre Ruhrbergbau, Bd. III, S. 79 f.). Am selben Tag ergeht an die einzelnen Zechen der schriftliche Befehl des Präs. der Micum, Coste, ab 17. 1. vorm. die Kohlenlieferungen auf Reparationskonto wieder aufzunehmen (abgedruckt bei Spethmann a.a.O., S. 81 f.). Die Zechenvertreter antworten darauf am 17. 1. mit einheitlichen Erklärungen, die nach gemeinsamer Beratung mit Rechtsanwalt Grimm formuliert wurden und u. a. feststellen: „Niemand kann gezwungen werden, gegen sein Vaterland zu handeln und eine ehrlose Handlung zu begehen. Die Anforderung, die an mich gestellt wird, schafft für mich einen moralischen Zwang, der auch nach französischem Recht jede Verantwortung meinerseits ausschließt.“ (R 43 I/203, Bl. 340 f.; abgedruckt bei Spethmann a.a.O., S. 82 ff.). In der Besprechung mit den Gewerkschaftsvertretern wird eine Erklärung Degouttes verlesen, die den Industriellen vorwirft, die Lage zu verschlimmern, die durch den bösen Willen der RReg. entstanden sei. Grützner verläßt daraufhin aus Protest die Besprechung. Als nach einer weiteren Erklärung General Simons die Sitzung für geschlossen erklärt wird, protestieren die Gewerkschaftsvertreter gegen diese Form von Besprechungen (Bericht Mehlichs in R 43 I/203, Bl. 332; Protokoll bei Spethmann a.a.O., S. 80 f.).
- 5
Mit VO vom 11. 1. hatte General Degoutte den Belagerungszustand verhängt. Die dt. Behörden wurden angewiesen, ihre Tätigkeit in der bisherigen Weise auszuüben und sich den Anordnungen der Militärgewalt zu fügen. In Art. 5 wird über den Verkehr bestimmt: „Im Prinzip freier Verkehr bei Tag und Nacht. Der Verkehr auf den Straßen sowie der Personen- und Güterverkehr auf der Eisenbahn vollzieht sich weiter in der bisherigen Weise, unter Vorbehalt besonderer Bestimmungen, die getroffen werden können.“ (VO in ‚Die frz.-belg. Anordnungen für das Ruhrgebiet‘, 1924, S. 6 ff.).