Text
[472] Nr. 157
Vermerk des Staatssekretärs Hamm zur bayerischen Notverordnung. 12. Mai 1923
Der Herr Bayerische Gesandte Dr. von Preger teilte mir am Donnerstag, dem 10. Mai (Himmelfahrtstag) mittags 1¼ Uhr mit, daß die Bayerische Regierung die beiliegende Verordnung zu erlassen beabsichtigt1. Er machte mir hiervon Mitteilung zum Beweise der Absicht, mit der Reichsregierung bestens zusammenzuarbeiten. Ich nahm von der Verordnung Kenntnis und erwiderte, daß ein solcher Beweis wohl nur dann vorliegen würde, wenn der Reichsregierung noch Gelegenheit gegeben würde, auf die endgültige Gestaltung einzuwirken. Gegen die Verordnung erhob ich Bedenken insofern, als Gefahr im Verzug nicht wohl gegeben sei, die Reichsregierung schon vorher hätte verständigt werden können und insbesondere der § 1 in seiner weitgedehnten Fassung im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Volksgerichte Bedenken hervorrufen könne2, zumal die Reichsregierung selbst vor kürzester Zeit über die Erlassung einer ähnlichen Verordnung Erwägungen angestellt, dabei aber zur Ablehnung gekommen sei und hiervon auch die Bayerische Regierung wohl mündlich Kenntnis bekommen habe3.
Exzellenz Heinze erhob bei mündlicher Rücksprache nachmittags 4 Uhr sehr lebhafte Bedenken.
Bei telefonischer Rücksprache mit dem Bayerischen Herrn Ministerpräsidenten nachmittags 5½ Uhr erklärte mir dieser, daß er sich nicht in der Lage sehe, von der Verordnung abzustehen, die Reichsregierung hätte ja längst eine solche Verordnung erlassen können; sie sei notwendig, und er sei nicht gesonnen, sich im letzten Augenblick aufhalten zu lassen. Das sei übrigens auch gar nicht mehr möglich, da die Verordnung bereits der Presse übergeben sei. Im übrigen sei er auch entschlossen, die Verordnung Einwendungen gegenüber aufrechtzuerhalten.
Im Auftrage des Herrn Reichskanzlers rief ich um 6 Uhr wiederholt an, wie ich vorher bereits als wahrscheinlich in Aussicht gestellt hatte, um für den Herrn Reichskanzler mitzuteilen, daß auch dieser persönlich der Angelegenheit große politische Tragweite beimesse und dringend einen kurzen Aufschub wünsche. Der Herr Ministerpräsident war nicht mehr zu erreichen, sondern,[473] wie mir seine Gattin mitteilte, eben fortgegangen. Ich übermittelte dann dieser den Auftrag4.
Fußnoten
- 1
Hier nicht abgedruckt. Die VO wird zusammen mit dem Aufruf der Bayer.StReg. vom 11. 5. als RT-Drucks. Nr. 5878, Bd. 378 am 18. 5. vom RIM dem RT zugeleitet. Eine Durchschrift der VO überreicht v. Preger am 12. 5. dem RK (R 43 I/556, Bl. 127-132).
- 2
Der § 1 lautet in seinem entscheidenden 1. Satz: „Ein Deutscher, der vorsätzlich während der in Friedenszeiten erfolgten Besetzung deutschen Gebiets durch eine fremde Macht dieser Macht Vorschub leistet, wird mit lebenslänglichem Zuchthause oder mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren bestraft.“ Nach § 10 sind die bayer. Volksgerichte für die Aburteilungen zuständig.
- 3
Am 27. 3. hatte v. Knilling der RReg. den Erlaß einer VO vorgeschlagen, die zum großen Teil wörtlich mit der bayer. VO vom 11. 5. übereinstimmt (s. Anm. 4 zu Dok. Nr. 115); der RReg erschienen diese Vorschläge jedoch zu weitgehend (s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 115).
- 4
Die Reichsvertretung in München informiert die Rkei über die Aufnahme der VO in der bayer. Öffentlichkeit mit Schreiben vom 11. und 12. Mai, über die Besprechung der VO im LT-Ausschuß am 15. 5. mit Schreiben vom 16. 5. Danach wurde die VO von den Parteien der Rechten allgemein begrüßt, während die Vertreter der Linken die gleichmäßige und unparteiische Handhabung der VO stark bezweifelten. Der MinPräs. erklärte den Erlaß der VO für notwendig, „da alle schriftlichen und mündlichen Versuche der bayerischen Regierung, die RReg. in dieser Angelegenheit zu einem Vorgehen zu veranlassen, leider ohne Erfolg geblieben seien.“ (R 43 I/2232, S. 533; 539 f., 579 f.). Dem RKom. Kuenzer teilte die Rkei am 28. 5. telefonisch mit, daß es dort zweckmäßig erschiene, „wenn von der RReg. aus die Handhabung dieser Vorschrift beachtet würde, z. B. gegenüber linksradikalen Blättern einerseits, dem ‚Völkischen Beobachter‘ und dem ‚Heimatland‘ andererseits.“ (R 43 I/2217, Bl. 248). Am 19. 6. verlangt die SPD-Fraktion im RT die Außerkraftsetzung der VO vom 11. 5. (RT-Drucks. Nr. 5997, Bd. 378), am 5. 7. erhält sie im RT Gelegenheit zur Begründung ihres Antrags (RT-Bd. 360, S. 11618 ff.), worauf dieser an den Rechtsausschuß überwiesen wird. Die SPD ergänzt ihren Antrag daraufhin am 6. 7. mit dem Ersuchen an die RReg., bis zur Erledigung ihres Antrags im Rechtsausschuß bei den bayer. Behörden darauf hinzuwirken, „insbesondere von Presseverboten abzusehen, wie sie in letzter Zeit fortgesetzt erfolgt sind wegen Notizen, die in den übrigen Teilen des Reichs unbeanstandet veröffentlicht werden konnten.“ (RT-Drucks. Nr. 6082, Bd. 378). Oeser erklärt am 7. 7. vor dem RT die Bereitwilligkeit der RReg., auf die Länder einzuwirken, um die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des dt. Volkes zu wahren (RT-Bd. 360, S. 11740). Am 19. 7. kommt es im bayer. LT zu einer äußerst lebhaften Debatte über die Anwendung der VO. Die SPD wirft der bayer. Reg. einseitige parteiische Anwendung vor, was Innenminister Schweyer zurückweist. Die VO könne erst aufgehoben werden, wenn sie nicht mehr notwendig sei. Dieser Zeitpunkt sei aber noch nicht abzusehen. Die Anträge der SPD bleiben unerledigt (Presseberichte in R 43 I/2217, Bl. 329).