Text
[60] Nr. 19
Staatssekretär Bergmann an den Reichskanzler London, 11. Dezember 1922
[Betrifft: Reparationsplan Bradburys]
Sehr verehrter Herr Reichskanzler,
ich berichtete bereits über meine heutige lange Unterredung mit Bradbury, an der gegen Schluß auch der Governor der Bank von England, Montague Norman, teilnahm1.
Die Stimmung zwischen den Alliierten ist durch die Konferenz keineswegs besser geworden. Auch die neue Englische Regierung hat sich überzeugt, daß mit Poincaré nicht zu arbeiten ist. Sie will aber unter allen Umständen einen Bruch mit Frankreich, den sie als unausbleiblich betrachtet, wenigstens noch solange vermeiden, bis die türkisch-griechische Angelegenheit geregelt ist2. Die Konferenz will sich daher bis zum 2. Januar vertagen, wo dieselben Beteiligten, also ohne die kleinen Alliierten, in Paris zusammentreffen sollen.
Außer der Ablehnung des deutschen Vorschlages ist keinerlei Beschluß gefaßt worden. Der deutsche Plan bot also die einzige Gelegenheit, der Welt ein Einvernehmen der Hauptalliierten zu zeigen. Das hat man getan, um die Franzosen für Lausanne bei besserer Laune zu halten und um Poincaré die Rückkehr nach Paris zu erleichtern. Man hat sich also doch wieder einmal auf unserem Rücken geeinigt und eine Einstimmigkeit in der Ablehnung konstruiert, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Denn sowohl die Belgier wie die Engländer haben dem Plan Sympathien entgegengebracht, was ja auch die englische Presse zeigt.
Allgemein wird die Hoffnung ausgesprochen, daß Poincaré über die Londoner Konferenz fällt und daß auch seine schroffe Zurückweisung des deutschen Planes bei näherem Nachdenken ihm die Stellung in Frankreich verdirbt. Aber das sind Hoffnungen, auf die man nicht bauen darf.
[61] Bradbury will seinen vielbesprochenen endgültigen Plan nunmehr zum 2. Januar aufs Tapet bringen. Der Plan scheint noch nicht ganz fertig zu sein. Er hat mir aber die Grundzüge diesmal etwas deutlicher bezeichnet3.
Er geht davon aus, daß von der Schuld unter dem Londoner Ultimatum die C-Bonds gestrichen werden, so daß die A- und B-Bonds im Nominalbetrage von 50 Milliarden übrig bleiben4. Diese sollen an sich mit 5% verzinslich sein. Die Tilgungsrate von 1% soll wegfallen. Deutschland soll in den ersten 4 Jahren keine Zinsen auf die 50 Milliarden zahlen, vom 5. bis 8. Jahre 4% Zinsen und vom 9. Jahr an 5% Zinsen. Nach dem 10. Jahr soll ein unparteiisches Schiedsgericht, bestehend aus einem deutschen und einem englischen Vertreter, welche sich einen Obmann wählen, zusammentreten. Falls sie sich über den Obmann nicht einigen, soll der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika einen Obmann bestimmen. Das Schiedsgericht hat die Aufgabe festzustellen, ob Deutschland in der Lage ist, die in den ersten 8 Jahren rückständig gewordenen Zinsen auf die 50 Milliarden mit 5% Zinseszinsen nachträglich zu zahlen oder nicht. Falls das Schiedsgericht entscheidet, daß Deutschland diese rückständigen Zinsen zahlen kann, so wird der aufgelaufene Betrag – nach Bradbury’s Berechnung etwa 17 Milliarden Goldmark – der Kapitalschuld von 50 Milliarden hinzugefügt. Wenn das Schiedsgericht gegenteilig entscheidet, so bleibt es bei den 50 Milliarden.
Die von Deutschland hiernach zu zahlenden Annuitäten, welche an sich auf ewige Zeiten laufen, da keine Tilgung vorgesehen ist, würden demnach wie folgt aussehen:
1. – 4. Jahr: | nichts, | |
5. – 8. Jahr: | 2 Milliarden, | |
9. – 10. Jahr: | 2½ Milliarden; | |
und vom 11. Jahre an entweder | 3⅓ Milliarden | |
oder, wie bisher, nur | 2½ Milliarden. |
Deutschland soll berechtigt sein, während der ersten 4 Jahre die Annuitäten zu finanzieren mit einem Rediskont von 8⅓%, vom 5. Jahre an mit 6¼%.
Ich kann im Augenblick nicht ausrechnen, wieviel der Jetztwert der kapitalisierten Annuitäten in der von Bradbury vorgesehenen Höhe bei einem[62] Rediskont von 8⅓% beträgt. Er würde jedenfalls kaum höher sein als 20 Milliarden. Ich darf ergebenst bitten, die Berechnung dort sogleich vornehmen zu lassen. Die Frage ist nur, wieviel man in den ersten 4 Jahren an Anleihen aufnehmen kann. Vom 5. Jahr ab tritt dann der Rediskont von 6¼% ein, bei dem die Ermäßigung der Kapitalsumme natürlich sehr viel geringer ist. Es würde auch interessant sein auszurechnen, wie sich die Sache stellt, wenn etwa in den ersten 4 Jahren 10 Milliarden Anleihe aufgenommen werden könnten und die Restschuld etwa vom 5. – 8. Jahre zu tilgen bliebe.
Der ganze Plan ist natürlich nur in dem Falle erträglich, wenn Deutschlands Kredit wieder in normale Bahnen zurückkehrt. Voraussetzung dafür wäre:
1) daß sämtliche Lasten unter dem Friedensvertrag in den Annuitäten eingeschlossen sind,
2) daß während der Moratoriumszeit keinerlei Sanktionsdruck gegen Deutschland ausgeübt wird.
Beides hat Bradbury zugesagt. Sämtliche Besatzungskosten würden daher in den Annuitäten eingeschlossen sein. Die Besetzung selbst würde aber nicht eher endigen, als dies im Friedensvertrage vorgesehen ist; es sei denn, daß Deutschland seine Gesamtschuld zu einer früheren Zeit tilgt.
Schwierigkeiten würde die Frage der Sachleistungen machen. Bradbury meint, daß die Kohlen- und Holzleistungen auf einen bestimmten Betrag fixiert werden müßten, der für Kohle niedriger sein solle als die bisherigen Forderungen. Alle Sachleistungen, die in den ersten 4 Jahren geleistet werden, würden als Kapitalrückzahlung angesehen werden, also unter Anwendung eines Rediskontsatzes von 8⅓%. Für die nachfolgenden Jahre könnte dasselbe Prinzip in Anwendung kommen, oder aber eine Verrechnung gegen die Bar-Annuität selbst. Im einzelnen werden hierbei noch manche technische Schwierigkeiten zu überwinden sein.
Ich habe eine grundsätzliche Stellungnahme zu dem Plan vermieden, weil ich seine Tragweite im Augenblick noch nicht übersehen kann. Bradbury scheint alles daran zu setzen, daß dieser Plan, an dem er schon seit verschiedenen Wochen arbeitet, zur Annahme kommt. Er erklärt, daß er für Deutschland durchaus tragbar sei. Ich habe aber darauf hingewiesen, daß mir der Rediskontsatz von 6¼% vom 5. Jahre ab viel zu niedrig erschiene.
Um die Franzosen für diesen Plan günstig zu stimmen, würde England auf fast seine gesamten Kriegs- und Nachkriegsforderungen gegen die Alliierten verzichten. Nicht in Betracht gezogen bei der Verrechnung ist der Fall, daß Amerika dies gleichfalls tut. Sollte das geschehen, dann könnte man nach Bradburys Ansicht für Deutschland noch bessere Bedingungen stellen. Wegen des taktischen Vorgehens rät Bradbury dringend dazu, daß Deutschland selbst diesen Plan als den seinigen vorlegen solle, sobald er von der Englischen Regierung grundsätzlich angenommen sei. Das würde England befähigen, offen zu erklären, daß es diesen deutschen Plan billige und den Franzosen die Streichung der interalliierten Schuld – abgesehen von Amerika –, anbiete, falls es auf den Plan eingehe.
Ich habe dagegen das grundsätzliche Bedenken erhoben, daß es mir verfehlt erscheine, den Plan durch Deutschland präsentieren zu lassen. Auch das[63] Schicksal des jetzt auf der Londoner Konferenz vorgelegten deutschen Planes beweise, daß die Alliierten und insbesondere die Franzosen jeden deutschen Plan, sei er gut oder schlecht, einfach aus dem Grunde zurückweisen, weil er eben von Deutschland komme. Außerdem bestehe die Gefahr, daß ein deutsches Angebot à la Bradbury, wenn es wirklich grundsätzlich Billigung finde, von den Franzosen wesentlich erhöht würde, weil sie doch nicht glauben würden, daß Deutschland gleich das Maximum seiner Leistungsfähigkeit anbiete. Allen diesen Einwendungen gegenüber bestand aber Bradbury darauf, daß ein von Deutschland vorgeschlagener und von England angenommener Plan auch bei den übrigen Alliierten durchgedrückt werden könne.
Ich bitte ergebenst, den Plan Bradburys einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Wenn er irgendwie tragbar erscheint, dann sollte man aus politischen Rücksichten ihm den Vorrang vor etwaigen deutschen Plänen geben. Ich bin sicher, daß Sir John bei seiner Eigenliebe jeden selbständigen deutschen Plan auf das Heftigste bekämpfen wird, weil er seinen Plan unter allen Umständen für sehr viel besser hält, als irgendeinen anderen.
Abschrift dieses Schreibens habe ich dem Herrn Reichsfinanzminister, dem Minister des Auswärtigen sowie dem Herrn Reichswirtschaftsminister übersandt.
Mit verbindlichem Gruß Ihr ergebener
Bergmann
Fußnoten
- 1
Im Telegramm Nr. 336 vom 11. 12. (an Berlin 23.55 h) hatte Bergmann dem RK kurz über die Ablehnung des deutschen Angebots berichtet: „B. [Bradbury] sagte, er habe die von Bonar Law zuerst beabsichtigte scharfe Form durch eine mildere ersetzt. Die Einstimmigkeit der Zurückweisung ist eine englische Konzession an die Franzosen, mit denen im Hinblick auf Entente cordiale Bruch vermieden werden soll. B. beabsichtigt, seine Regierung zu bestimmen, daß sie am 4. Januar einen endgültigen Reparationsplan vorlegt, der den Ideen von B. entspricht, über die ich kürzlich wiederholt berichtet habe. Schriftlicher Bericht darüber folgt.“ (R 2/3124, Bl. 121). Im vorliegenden Bericht Bergmanns ist die kommende Konferenz der Alliierten ebenfalls in Ms. auf den 4. 1. datiert, dann handschriftlich von Bergmann in 2.1. korrigiert.
- 2
MdR Breitscheid hatte noch weitgehender geäußert, „daß die neue englische Regierung der französischen ihre Unterstützung in der Reparationsfrage zugesagt habe. Er sei kürzlich selbst in London gewesen und habe sich von dieser Tatsache überzeugen müssen. England sei infolge seiner völlig verfahrenen Orientpolitik Frankreich vollständig ausgeliefert und daher ganz in seinem Schlepptau.“ (Bericht eines Hamburger Geschäftsfreundes des RK vom 27. 11., R 43 I/2662, Bl. 227-234). Die türkisch-griechischen Streitfragen waren Thema der Lausanner Konferenz, die am 20.11.22 zusammengetreten war, um einen Friedensvertrag mit der Türkei abzuschließen. Erst im Juli 1923 kommt es zu einer Einigung zwischen den Alliierten und der Türkei, während zwischen Griechenland und der Türkei am 26.5.23 eine Verständigung zustandekommt.
- 3
Der im folgenden skizzierte Plan Bradburys entspricht weitgehend dem Reparationsplan, der von Bonar Law auf der Pariser Konferenz vom 2. – 4.1.23 vorgelegt wird. Allerdings gibt es in der Zwischenzeit auf engl. Seite einige Auseinandersetzungen um diesen Plan. So berichtet StS Fischer dem RFM am 20. 12. über ein Gespräch, das er in Paris mit Bradbury führte: „Aus dem Gespräch ergab sich klar, daß Bradbury mit seinem Plan, den er Herrn Bergmann in London mitgeteilt hat, bei seiner Regierung auf Schwierigkeiten stößt. Das jetzige Kabinett und insbesondere Bonar Law [sei], wie er sagte, zwar davon überzeugt, daß während einer ausgiebigen Übergangszeit von etwa 4 Jahren Deutschland nichts irgendwie Wesentliches leisten könne, aber die spätere Leistungsfähigkeit werde von diesen Herren ‚sanguinischer‘ beurteilt als von ihm. Er sei also davon überzeugt, daß ein deutscher Plan für eine Gesamtlösung, der eine Belastung mit einem Gegenwartswert von 20 Mrd. GM (unter Berücksichtigung eines Zinsfußes von 5%) vorsähe, nicht nur von der französischen Regierung, sondern auch von der englischen als undiskutabel angesehen werden würde.“ (R 2/1900, gefunden in R 2/2900, Bl. 64-68).
- 4
Der Londoner Zahlungsplan vom 5.5.21 hatte die dt. Reparationsschuld auf insgesamt 132 Mrd. GM festgesetzt, die in 12 Mrd. GM A-Bonds, 38 Mrd. GM B-Bonds und 82 Mrd. GM C-Bonds eingeteilt wurden.