Text
Nr. 46
Der Reichskanzler an die Landesregierungen. 16. Januar 1923
R 43 I/1199, Bl. 117-122,123-127, 89-96, 97-103 Entwurf1
[Betrifft: Maßnahmen gegen Schlemmerei und Alkoholmißbrauch]
Die weit überwiegende Mehrheit unseres Volkes leidet Not und weiß kaum, wie sie die Familie erhalten, für Nahrung, Kleidung und Erziehung[152] sorgen soll. Die politischen Ereignisse der letzten Tage, der rechts- und vertragswidrige Einmarsch eines französisch-belgischen Heeres in das Ruhrgebiet, die wirtschaftszerstörenden Anordnungen der französischen Gewalthaber und die daraus folgende neuerliche Entwertung der deutschen Währung haben diese Sorgen bis aufs Höchste gesteigert. Die Reichsregierung ist bemüht, auf allen Wegen, die Erfolg versprechen, Abhilfe und Milderung zu versuchen. Dabei ist sie entschlossen, auch gegen Mißstände anderer Art, die im öffentlichen Leben hervortreten, vorzugehen.
I.
Die Reichsregierung empfindet es als eine Herausforderung aller notleidenden wie aller anständig gesinnten Kreise unseres Volkes, wenn gleichwohl immer noch Schlemmerei, Genußsucht und Alkoholmißbrauch sich breit machen; es ist eine Notwendigkeit, daß vom Staate, Reich und Ländern mit aller Kraft dagegen vorgegangen werde, wenn der Staat sich nicht selbst als sittlicher Begriff aufgeben will.
Die Absicht der Reichsregierung zu solchem Vorgehen hat in der Zusammenkunft vom 12. Januar 1923 bei den Leitern der Regierungen der Länder rückhaltlose Zustimmung gefunden2. Die Volksvertretungen, die Presse und die öffentliche Meinung fordern dasselbe. Es ist Zeit, zur Tat zu schreiten.
Die Reichsregierung hat dem Reichsrat soeben außer dem Entwurf eines Gesetzes über den Verkehr mit Absinth den Entwurf eines Schankstättengesetzes vorgelegt3. Der erste Entwurf soll die Einbürgerung eines gesundheitsschädlichen, deutscher Art fremden Genußmittels rücksichtslos unterbinden; der zweite den Landesbehörden starke Handhaben zur Regelung des Schankstättenwesens und zur Bekämpfung von Mißständen geben, insbesondere die Befugnis zur Versagung oder Entziehung der Schankerlaubnis erweitern und die Abgabe geistiger Getränke an Jugendliche verbieten. Die Reichsregierung erhofft die eilige Verabschiedung des Gesetzentwurfs.
Doch kann und braucht mit kräftigem Vorgehen gegen öffentliche Mißstände nicht bis dahin gewartet zu werden. Schon die bestehenden Gesetze geben hierzu Handhaben, »wennschon diese zum Teil nicht genügen und nur mit unzureichenden Strafbestimmungen ausgestattet sind«4. Worauf es zunächst ankommt, ist daher wenigstens das, daß ein starker Wille zu ihrer Anwendung überall, bei allen hierzu berufenen Behörden und Beamten der Staatsverwaltung und der Selbstverwaltung sich rücksichtslos durchsetzt. Für die Reichsregierung ersuche ich deshalb die Regierungen der Länder ergebenst,[153] alle beteiligten Behörden und Beamten mit entsprechenden Weisungen je nach dem Stande ihrer Gesetzgebung zu versehen5. Indem ich für die Einzelheiten auf die Anlage verweise6, darf ich als besonders geeignete Mittel hervorheben:
1. Die ausnahmslose Aufstellung des Erfordernisses des Bedürfnisnachweises für alle Branntweinschenken, Bars usw. wird die Neuentstehung solcher Schankstätten überhaupt verhindern können7.
2. Die strenge Anwendung der Entziehungsbefugnisse nach § 53 der Gewerbeordnung wird in kurzer Zeit zu einer erheblichen Verminderung an Schankstätten unerfreulicher Art führen8.
3. Durch sehr frühe Festsetzung der Polizeistunde für gewisse Arten von Schankstätten kann dem Alkoholmißbrauch sehr wirksam entgegengetreten werden.
4. Zum Schutze der Jugendlichen werden zumeist aufgrund des bestehenden Polizeirechtes wirksame Vorschriften erlassen werden können9.
5. Die Erlaubnis zu öffentlichen Tanzlustbarkeiten wird im allgemeinen zu versagen sein10.
[154] 6. Trunkenheit ist gegenwärtig unter allen Umständen öffentliches Ärgernis. Ein polizeiliches Vorgehen, das solches Ärgernis abstellen will, muß streng und rücksichtslos sein11.
II.
Die Reichsregierung ist sich darüber klar, daß die wirksamste Abhilfe gegenüber solchen Mißständen aus dem Volke selbst kommen muß. Weit über das Gebiet der Bekämpfung des Alkoholmißbrauches hinaus muß sich unser Volk in allen Kreisen, denjenigen sowohl, die Vermögen erhalten oder erworben haben, wie in denen, die ohne Vermögen den schweren Sorgen des Tages gegenüberstehen, in einheitlicher, ernster und würdiger Auffassung zusammenfinden. Es muß die polizeiliche Bekämpfung von Mißständen nicht nur ertragen, sondern muß sie selbst tragen als aus dem Willen des Volkes hervorgegangene Maßnahmen, bei denen die Regierung lediglich Vollzugsorgan gemeinsamer Forderungen des ganzen Volkes ist.
Damit soll nicht etwa ein Verzicht auf Freude gefordert werden. Das deutsche Volk und namentlich unsere Jugend hat ein Recht auf Freude, aber sie soll in würdiger Weise gesucht und gefunden werden. Leibesübungen und Sport jeder Art sowie die Einkehr bei den Geistesschätzen alter deutscher Kultur sind heute noch, auch dem Unbemittelten, leicht möglich. Die Regierungen der deutschen Länder, Verwalter eines großen geistigen Erbes, hatten sich immer angelegen sein lassen, den Weg dazu auch den Minderbemittelten zu erleichtern und werden in dieser Zeit der Not sich darum doppelt bemühen.
Es sollte zum nichtgeschriebenen, aber desto stärker wirkenden Gesetz werden, daß auch da, wo Gesetz und Polizei nicht eingreifen können und wollen, im privaten Leben Luxus und Schlemmerei aufgegeben werden. Danach zu handeln muß als vaterländisch gelten, dagegen zu verstoßen als Verstoß gegen den Ernst der Zeit überall gebrandmarkt werden. <Die deutschen Frauen sollten sich freihalten von Schmuck und Tand, die deutschen Männer, vor allem die Jugend, sollten sich Maß und Einschränkungen auferlegen wie im Genuß von Alkohol, so auch im Genuß von Tabak12 in einer Zeit, in der viele ihr letztes Wertstück hergeben müssen, um ihr Leben zu fristen. Alle irgendwie entbehrlichen Mittel, insbesondere,> was bisher für Luxus und Gasterei üppiger Art ausgegeben wurde, sollte der Fürsorge für Minderbemittelte und Arme, der Fürsorge für öffentliche Bildung und andere gemeinnützige Zwecke zufließen.
Auch öffentlichen Unsittlichkeiten und Unsauberkeiten, die sich in Theater und Lustbarkeiten und sonst, häufig ausländische Herkunft zur Schau tragend,[155] vielfach breitmachen, wird so am stärksten aus einer besseren sittlichen Auffassung unseres Volkes, besonders auch unserer Jugend, entgegengewirkt werden, die Gott sei Dank zum größten Teile solche Widerlichkeiten ablehnt.
Verbinden sich die führenden Kreise unseres öffentlichen Lebens von Regierung, Geisteswelt, Presse und Wirtschaft in solcher Auffassung zu stillem Bunde, so werden sie damit anständig Gesinnte stärken, Schwankende befestigen, Unvornehmdenkende auf dem Wege der gesellschaftlichen Sitte zurechtweisen und führen zu dem Ziele, daß unser öffentliches Leben wieder rein und deutsch wird.
Cuno
Fußnoten
- 1
Der Entwurf ist mit handschriftl. Verbesserungen Cunos und Hamms versehen und dem Vermerk „Endgültige Fassung“. Am 18. 1. schickt Hamm den beteiligten RM und dem PrIM Abschriften des unkorrigierten Entwurfs zu mit der Bitte um sofortige telefonische Stellungnahme. Die Stellungnahme des PrIMin. ist von Wever in einem Vermerk vom 18. 1. niedergelegt und wird in den wichtigsten Punkten zitiert; der REM schlägt einen zusätzlichen Hinweis auf die von ihm geplante VO gegen Schlemmerei vor [s. Dok. Nr. 47, P. 3], zieht diesen Vorschlag aber lt. Vermerk Hamms wieder zurück (R 43 I/1199, Bl. 97-103, hier: Bl. 102); die Stellungnahmen des RIMin., des RJMin. und des RWiMin. sind nicht verzeichnet, sie dürften zustimmend ausgefallen sein. Danach müßte das Rundschreiben an die Landesregierungen am 19. 1. abgegangen sein; am 20. 1. wird es der Presse zugeleitet. Das offizielle Datum ist handschriftlich von 17. in 16. 1. abgeändert worden. Abschriften des Rundschreibens in R 43 I/1493, Bl. 231-233 und 1199.
- 3
Der Entwurf eines Schankstättengesetzes war ebenso wie der Gesetzentwurf über den Verkehr mit Absinth am 12. 1. vom Kabinett verabschiedet worden (Dok. Nr. 41).
- 4
Von Hamm handschriftlich hinzugefügt.
- 5
Die entsprechenden VO und Weisungen des PrIMin. sind abschriftlich der Rkei zugestellt worden und finden sich in R 43 I/1199. S. auch MinBl. des PrIMin. 1923, S. 61 – 68.
- 6
Die Anlage ist nicht mit abgedruckt; die wichtigsten Teile werden aber an den betr. Stellen zitiert., R 43 I/1199, Bl. 126 f.
- 7
In der Anlage heißt es dazu: „Nach § 33 der Reichsgewerbeordnung [RGBl. 1900, S. 882 f.] sind die Landesregierungen befugt zu bestimmen, daß die Erlaubnis zum Ausschank von Branntwein allgemein vom Nachweis eines besonderen Bedürfnisses abhängig sein soll. Wird aufgrund dieser Bestimmungen allgemein der Bedürfnisnachweis durch Landesverordnung eingeführt, so kann wenigstens dem Entstehen neuer Branntweinschenken vorgebeugt werden.“
- 8
In der Anlage heißt es dazu: „Nach § 53 der Reichsgewerbeordnung [RGBl. 1900, S. 892] kann die Schankerlaubnis zurückgenommen werden, wenn aus Handlungen oder Unterlassungen des Inhabers der Mangel der Eigenschaften klar erhellt, die bei Erteilung der Erlaubnis vorausgesetzt werden mußten, wenn also Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Erlaubnisträger das Gewerbe zur Förderung der Völlerei, des verbotenen Spieles, der Hehlerei oder Unsittlichkeit mißbrauchen werde. Nach den Erfahrungen des täglichen Lebens kann bei strenger Anwendung dieser Bestimmung einer großen Zahl von Schankwirtschaften, Branntweinschenken, Likörstuben, Bars, und zwar solchen mit niedrigen Preisen wie solchen mit hohen und höchsten Preisen, ein Ende gemacht werden.“ Ein Vertreter des PrIMin. sprach sich nach einer Aufzeichnung Wevers vom 18. 1. zu diesem Punkt sehr kritisch aus: „Ein wirksames Mittel verspreche er sich nicht, da das Konzessionsentziehungsverfahren manchmal jahrelang dauere.“ (R 43 I/1199, Bl. 104).
- 9
In der Anlage heißt es dazu: „Nach dem Polizeirecht der meisten Länder, insbesondere für Preußen, ist es jetzt schon möglich, die Abgabe von geistigen Getränken an Jugendliche zu beschränken. Danach kann die Abgabe von Branntwein an Jugendliche etwa bis zum vollendeten 18. Lebensjahre ganz verboten und es kann angeordnet werden, daß in dem zum Ausschank geistiger Getränke dienenden Räumen Kinder etwa bis zum vollendeten 14. Lebensjahre nur in Begleitung von Eltern, Vormündern, Lehrern, Erziehern oder anderen erwachsenen Angehörigen sich aufhalten und geduldet werden dürfen.“
- 10
Über die Stellungnahme des Vertreters aus dem PrIMin. berichtet Wever: „Er bemerkte im übrigen, daß die Spitzenorganisationen der Hotelbesitzer usw. heute bei ihm gewesen seien und die Entlassung von 8000 Arbeitern angekündigt hätten wegen der in Aussicht genommenen Maßnahmen, insbesondere wegen des Tanzverbots, wodurch insbesondere die großen Saalbesitzer geschädigt würden. Falls man eine gewisse Befristung dieser Maßnahmen in Aussicht stellen könnte, würden sie voraussichtlich von Entlassungen absehen. StS Freund glaubte aber von sich aus eine solche Zusage nach irgendeiner Richtung nicht machen zu können. Auch Vertreter der Arbeitnehmer seien bei ihm gewesen und hätten ihm gesagt, daß sie auch zum RK gehen und Protest gegen die Maßnahmen erheben würden, da sie ihn für den geistigen Urheber dieser Maßnahmen hielten.“ (R 43 I/1199, Bl. 104), Am 19. 1., 11.30 h, bringen Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände des Hotel- und Gaststättengewerbes ihren Protest in der Rkei vor, von Wever in einer fünfseitigen Niederschrift festgehalten (R 43 I/1199, Bl. 136 f.).
- 11
Dazu heißt es in der Anlage: „Werden die Polizeibeamten angewiesen, dementsprechend Betrunkene ausnahmslos zur Anzeige zu bringen und, wenn dem Ärgernis nicht sofort sicher ein Ende bereitet werden kann, in Verwahrung zu nehmen, so wird dies eine sehr wirksame Waffe gegen Mißstände sein.“ In dieser Frage, vermerkt Wever am 18. 1., „sei nach Auffassung des PrIM nichts zu machen. Der frühere Schluß der Lokale würde nach der Richtung bessernd helfen.“
- 12
Dieser Satz ist von Hamm handschriftlich hinzugefügt worden, der folgende Teil von Cuno.