2.176 (cun1p): Nr. 176 Aufzeichnung des Staatssekretärs Hamm zur Lage in den besetzten Gebieten. [1. Juni 1923]

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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[534] Nr. 176
Aufzeichnung des Staatssekretärs Hamm zur Lage in den besetzten Gebieten. [1. Juni 19231]

R 43 I /188 , Bl. 274-2762

Professor Stein und Landrat Loenartz waren bei der Aschaffenburger Sitzung, über die Bericht von Staatssekretär Brugger beiliegt3.

Landrat Loenartz führte vor allem in Übereinstimmung mit dem Bericht von Brugger aus, daß die Ablehnung jeglicher Herbeiführung eines Rheinstaates allgemein sei. Das sei insbesondere die Auffassung der Rheinischen Zentrumspartei. Die Haltung der Kölnischen Volkszeitung stimme damit völlig überein und werde auch dadurch nicht beeinträchtigt, daß Geheimrat Strauß, der politisch nach anderen Seiten neige, auf die Kölnische Volkszeitung Geldeinfluß habe. Beide Herren sagen, es laufen jetzt sehr stark auch die englischen Gedankengänge auf die Duldung einer solchen Ablösung hinaus. England denke wohl daran, daß eine solche Ablösung weitere Veränderung zur Folge haben werde, Hannover, Hamburg und dort sich englischer Einfluß entfalten könnte4. Man nehme an, daß für Frankreich drei Möglichkeiten in Betracht kommen: einmal eine gewisse Unterstellung des Rheinlands unter den Völkerbund, dann die selbständig bundesstaatliche Gestaltung mit französischem Einfluß, zum dritten die Internationalisierung der Bahnen.

Die Bevölkerung sei der Erschöpfung und der Ermüdung nahe. Eine gewisse Gefahr sei, daß plötzlich die Stimmung aufkommen könnte, nun Schluß zu machen, koste es, was es wolle; lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Dabei sei die patriotische Beruhigung die, daß gerade in solchem Fall das Irredentagefühl umso stärker sein werde. Die Parteien lehnen diese Auffassung rundweg ab und haben vereinbart, daß über ein staatliches Problem des Rheinlandes überhaupt nicht gesprochen werden solle. Das sei nun insbesondere[535] auch die feste Auffassung des rheinischen Zentrums, für die besonders auch Minister Brauns sich einsetze5. Notwendig sei zunächst:

1. Der Widerstand müsse zweifellos beweglichere Formen annehmen und mehr auf den Gedanken eingestellt werden, den Gegner möglichst zu schädigen und eigene Lebensnotwendigkeiten zu schonen. Wenn jetzt Trier, das ohne jede Verbindung sei, auch die Postverbindung verliere, sofern nicht Entgegenkommen in der Beförderung an neue französische Stellen gezeigt werde, so wäre es richtiger hier auszuweichen6. Notwendig sei auch, die Leitung und die Entscheidungen des Widerstandes mehr in das besetzte Gebiet selbst zu verlegen, Vollmachten und Geld dorthin zu geben, sonst wachse zu sehr die ohnehin schon starke Mißstimmung gegen Berlin. Schon habe man das Wort gehört „Berlin verteidige das Rheinland bis auf den letzten Rheinländer“. Wie insbesondere Professor Stein hervorhob, geht schon seit geraumer Zeit das Gefühl um, es werde über den Kopf des Rheinlandes über das Rheinland verhandelt. Man verkaufe oder verrate das Rheinland gegen kapitalistische Interessen. Diese von der „Roten Fahne“ täglich verbreitete Auffassung sei bei der Arbeiterschaft nicht ohne Einfluß. Professor Stein hob in diesem Zusammenhang hervor, daß die Arbeiterschaft jedenfalls mit keinerlei staatlicher Veränderung sich abfinden werde.

Auch im unbesetzten Gebiet wachse das Gefühl, lieber ein Ende mit Schrecken zu wollen. Die Bergwerkszeitung schrieb einen Aufsatz „Lieber Bolschewismus“. Der Übergang zu einer elastischeren Widerstandsform sei sicherlich nicht leicht. Er müsse mit kluger Schonung vollzogen werden.

2. Die Reichsregierung müsse ganz klarstellen, daß unter keinen Umständen aus Reparationsgründen zu Gunsten des Kapitals das Rheinland in irgendeiner Form verkauft oder verpfändet werde. Dafür genüge aber nicht eine Erklärung der Reichsregierung, sondern die sämtlichen Parteien müssen dahinter stehen, im Reichstag, im Preußischen Landtag und in anderen Landtagen, und zwar nicht bloß durch eine einhellige Erklärung, sondern in abgestimmten Reden, vieltönig, aber im Grunde einstimmig. Das müsse in der nächsten Woche klar und fest herauskommen. Der Gedanke der „legalen Neutralisation“ müsse totgemacht werden.

3. Notwendig sei stärkste Propaganda. Diese werde am besten eingeleitet[536] durch eine solche Erklärung der Parteien. Über technische Einzelheiten, Geldbedarf usw. wurde weiter gesprochen und volles Einverständnis erzielt7.

4. Man müsse sich klar werden, welchen Weg man einschlagen wolle, wenn Frankreich sein Ziel mit Gewalt durchzusetzen versuche. Dann müsse die Irredenta im Rheinland vorbereitet werden. Das müsse politisch und wirtschaftlich tief durchgearbeitet werden. Landrat Loenartz beabsichtigt, hierüber eine Denkschrift auszuarbeiten. Die Reichsregierung müsse Wirtschafter, Politiker und Historiker damit beauftragen und besonders auch die Erfahrungen, die in Belgien während unserer Besatzung gemacht wurden, und die Erfahrungen, die Frankreich mit Elsaß-Lothringen machte, heranziehen.

Professor Stein stimmte all diesen Ausführungen zu und wies darauf hin, daß die Stimmung im Rheinland schon etwas früher ermattet und ermüdet sei, besonders infolge gewisser Parlamentsreden und Zeitungsstimmen vor der letzten Note. Die Engländer finden sich offenbar immer mehr mit der Neutralisation ab. Englische Arbeiter haben bei Bereisung des Ruhr- und Rheinlandes dies ausgesprochen und darin eine Lösungsmöglichkeit erblickt. MacDonald allerdings lehnte ab. Das Schicksal der Note vom 2. Mai habe sehr entmutigt, da man England und Frankreich Hand in Hand zu sehen glaubte. Daraus erwuchsen dann Gedankengänge, man müsse das Beste aus den Tatsachen machen, und besonders auch Industrielle stellten sich darauf ein, lieber ein Ende mit Schrecken zu wollen und so die Irredenta zu beschleunigen.

Das Wichtigste sei, zum Bewußtsein des deutschen Volkes, besonders auch des Rheinlandes zu machen, daß wir bereit seien, alle Lasten auf das ganze Deutschland zu nehmen, aber nicht die geringste Sonderbelastung auf das Rheinland allein. Zugespitzt: wir sind bereit, wenn es zur Erhaltung des Lebens nicht anders möglich ist, als ganzes Volk durch das Joch zu gehen, aber wir lassen nicht das Rheinland allein durchs Joch gehen. Daß irgendeine Partei einer vertragsmäßigen Preisgabe des Rheinlandes zustimme, ist nach beider Herren Urteil völlig ausgeschlossen.

Gesamtergebnis:

1) Es muß eiligst zusammen mit dem Herausgeben der neuen Note geprüft werden, welche Folgerungen aus der gegenwärtigen politischen Lage sich für die Form des Widerstandes ergeben8.

[537] 2) Hierbei wird als erwünscht erachtet, die Widerstandsleistung und -bestimmung mehr ins besetzte Gebiet zu verlegen. Insbesondere muß dahin getrachtet werden, in Fällen ausgewiesener Beamter jeweils ein unsichtbares Kommando zu haben.

3) Reichsregierung und Reichstag sollen in der nächsten Woche die unbedingte und ungeminderte Zusammengehörigkeit mit dem Reiche besonders betonen9.

4) Die Propaganda im besetzten Gebiet vor allem mündlich durch die beteiligten Vereinigungen und Stände, insbesondere den Klerus zu betreiben, bedarf großer Mittel, die bereits angefordert sind10. Die Ausgestaltung im einzelnen wird wöchentlich unter den Teilnehmern der heutigen Besprechung festgelegt werden. Dabei wird es der Beteiligung der Stelle Brugger nicht bedürfen, der Beteiligung Preußens, mit dem völlig reibungslosen Zusammenarbeiten erzielt ist, von Fall zu Fall.

Hamm

Fußnoten

1

Die Aufzeichnung ist undatiert, sie trägt aber den handschriftlichen Vermerk Hamms: „Herrn RK. 1. 6.“ Ihre Überschrift lautet: „Niederschrift über die Besprechung mit MinDir. Heilbron, Prof. Stein und Landrat Loenartz.“

2

Eine Durchschrift in R 43 I /1838 , S. 351-359.

3

Am 30. 5. sandte StS Brugger dem RK einen sechsseitigen Bericht über die Tagung der Aktionsausschüsse der politischen Parteien des altbesetzten Gebiets, die am 26. 5. in Aschaffenburg zusammengekommen waren. Dieser Bericht ist in Einzelfragen noch detaillierter, insgesamt aber weniger inhaltsreich als die vorliegende Aufzeichnung. Im folgenden wird daraus zitiert.

4

Im Bericht Bruggers an den RK heißt es dazu: „Bei Erörterung der Rheinlandpläne der Gegner berichteten die Redner aus dem englisch besetzten Gebiet, daß die englischen Delegierten seit einiger Zeit das Thema der französischen Rheinpolitik immer wieder anschneiden und nahelegen, auf die französischen Pläne einzugehen. Nach den Anschauungen dieser englischen Vertreter sollte Deutschland eine Regelung in dem Sinne annehmen, daß das linksrheinische Gebiet bei Deutschland belassen und lediglich von Preußen losgetrennt werde. Dabei empfehlen sie auch den Gedanken einer Volksabstimmung. Seitens der Parteien und Gewerkschaften wird diesen Plänen einmütige Ablehnung entgegengesetzt. Sie sind sich darüber klar, daß die Bildung eines rheinischen Gliedstaates für die Franzosen nur eine Etappe auf dem Wege zur Loslösung des Gebietes von Deutschland und zur Zerstörung des Reichs überhaupt sei.“ (R 43 I /188 , Bl. 281-283).

5

Am 29. 5. vermerkte StS Hamm für den RK: „Von RKom. Kuenzer höre ich aus vertraulicher Quelle, daß in rheinischen Kreisen der Gedanke eines rheinischen Staates im Rahmen des Reichs große Fortschritte gemacht hat.“ (R 43 I /228 , Bl. 141). Redakteur Cohnstaedt von der ‚Frankfurter Zeitung‘, der am 28. 5. seine Auffassung über die Lage im Rheinland dem RK und StS Hamm dargelegt hatte (Vermerk Hamms in R 43 I /188 , Bl. 277-279), schreibt am 2. 6. an Hamm: „Von zwei Seiten ist mir im Laufe dieser Woche bestätigt worden, daß man sich innerhalb der rheinischen Zentrumspartei mit dem Gedanken einer rheinischen oder einer westdeutschen Republik (natürlich als Bundesstaat) wieder durchaus ernsthaft beschäftigt. Man bewegt sich auf demselben Gedankenpfad, den wir von 1919 her kennen, daß man mit einem solchen Vorgehen weiterreichenden französischen Plänen unter Umständen werde zuvorkommen müssen.“ (R 43 I /188 , Bl. 292). In einem weiteren Schreiben vom 6. 6. teilt Cohnstaedt StS Hamm mit, „daß im rheinischen Zentrum seit vergangener Woche eine systematische Gegenwirkung eingesetzt hat gegen die Tendenzen, über die ich Ihnen berichtet habe. Diese Gegenwirkung geht von der Parteileitung aus, und wir wollen hoffen, daß sie überallhin durchdringt.“ (R 43 I /188 , Bl. 295).

6

Ein entsprechendes Schreiben richtete StS Brugger am 30. 5. an den RPM (R 43 I /188 , Bl. 284).

7

Im Bericht Bruggers an den RK heißt es zur Frage der Propaganda: „Bei den Darlegungen über die deutsche Gegenarbeit gegen die französische Propanganda wurde festgestellt, daß erfreuliche Fortschritte erzielt sind. Flugblattpropaganda geschieht nach allgemeiner Meinung nunmehr genug. Die von den amtlichen Stellen in Frankfurt, Heidelberg und Darmstadt herausgegebenen, zur Widerlegung der gegnerischen Propagandalügen und zur Verbreitung deutschen Nachrichten- und Aufklärungsmaterials bestimmten Zeitungen werden durchschnittlich wöchentlich in großen Mengen in das besetzte Gebiet gebracht. Infolge der Lahmlegung des Eisenbahnverkehrs geschieht die Verbreitung vermittels der Post und besonderer Kuriere.“ (R 43 I /188 , Bl. 281-283).

8

Eine gründliche Besprechung der Abwehrtaktik im Rheinland schlägt Hamm auch in einem handschriftlichen Vermerk vom 3. 6. vor. „Zweckmäßig hierfür wäre eine einleitende Besprechung zwischen dem Herrn RK, dem Herrn RIM, dem Herrn RWiM, dem Herrn RArbM, dem Herrn REM, dem Herrn RVM, dem Herrn RPM, Herrn StS Brugger, Herrn Bgm. Schmid, wobei noch zugezogen werden könnten OPräs. Fuchs, OB Jarres, Landrat Loenartz.“ (R 43 I /188 , Bl. 310-313). Über eine derartige Besprechung fanden sich keine Akten in R 43 I; sie ist wahrscheinlich nicht zustandegekommen.

9

Derartige Anregungen finden sich auch im Vermerk Hamms vom 3. 6. Am 8. Juni findet im PrLT eine Aussprache über die Rhein-Ruhrpolitik statt, bei der MinPräs. Braun u. a. erklärt, „daß eine Aufgabe der Rheinlande nie und nimmer in Frage kommt. Auch der Gedanke, daß das Rheinland und seine Bewohner ein Handelsobjekt werden könnten, kann für die preußische wie für die Reichsregierung nie Gegenstand der Erwägungen sein. Hände weg vom Rheinland! Der Rhein und die Rheinländer waren deutsch und werden deutsch bleiben!“ (Schultheß 1923, S. 109). RK Cuno erklärt anläßlich einer Ansprache in Münster am 9. 6.: „Es gibt keinen Preis, für den uns die deutschen Lande an Rhein und Ruhr, an Saar und Mosel feil wären; keinen Preis, um den wir das Recht des Reiches und der anderen Staaten in diesen deutschen Landen mindern ließen! In dieser Erklärung weiß ich mich eins mit allen politischen Parteien und Schichten des deutschen Volkes, eins mit der preußischen Regierung und mit der Volksvertretung, eins mit allen anderen Ländern des Reiches.“ (Schultheß 1923, S. 110 f.).

10

Mit Schreiben vom 31. 5. ersuchte der RK StS Zapf um die Bereitstellung eines Kredits von drei Mrd. M für die Presseabteilung der RReg. An unmittelbar dringenden Ausgaben ständen an 400 Mio für die Stelle Klingenberg, 500 Mio für die Reichszentrale für Heimatdienst, 100 Mio für ihre Sonderarbeit gegen links- und rechtsradikale Gruppen, 200 Mio Zuschuß für die Propagandaarbeit Preußens (R 43 I /228 , Bl. 142).

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