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Nr. 52
Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften. 23. Januar 1923, 16 Uhr
Anwesend1: Cuno, Becker, Luther, Albert; StS Geib, Hamm; MinDir. v. Brand, Sitzler, Wörtz; vom ADGB: Leipart, Scheffel, Zauter, H. Meyer, Martmöller; vom DGB: Baltrusch, Brost, Metzinger, Steger; vom Gewerkschaftsring: Lemmer, G. Schneider; vom AfA: Süß, Gnauer [?]; [Protokoll: ORegR Offermann].
Der Reichskanzler begrüßte die Herren und gab einen Überblick über die politische Lage. Das Deutsche Reich befinde sich in der Abwehr; die Gegner hätten eine verschleierte politische Aktion eingeleitet, und gegen diesen Rechtsbruch gäbe es nur passive Resistenz als Abwehrmittel. Man müsse sich darüber klar sein, daß Deutschland allein stehe. Keine einzige fremde Regierung habe sich den deutschen Missionen gegenüber für Frankreich und Belgien ausgesprochen, andererseits sei mit Ausnahme von Sowjet-Rußland kein Protest in die Welt gegangen2. Den Abzug der amerikanischen Truppen aus Koblenz könne man nicht ohne weiteres als Protestaktion ansehen3. Es sei beabsichtigt, vier Hauptpunkte der heutigen Besprechung zugrunde zu legen:
1.
Die Lage im Ruhrgebiet,
2.
die Ernährungslage,
3.
die Frage der Wucherbekämpfung,
4.
die sozialen Fürsorgemaßnahmen.
Im Anschluß hieran gab Reichswirtschaftsminister Dr. Becker eine eingehende Darstellung der Lage im Ruhrgebiet. Vom ersten Tage ab habe man[187] erfreulicherweise Einmütigkeit im Ruhrgebiet dahin feststellen können, daß den Maßnahmen der Franzosen und Belgier passiver Widerstand entgegenzusetzen sei. In den letzten Tagen sei dieser Widerstand noch stärker geworden. Der Abzug des Kohlensyndikats aus Essen bedeute nur eine örtliche Verlegung, keinen Abbau dieser Einrichtung, insbesondere werde an der Gemeinwirtschaft der Kohle nichts geändert. Die Verlegung nach Hamburg sei das Signal zum Widerstand der Ruhrbewohner gewesen und habe Frankreich eine große Enttäuschung gebracht. Es sei damit erreicht worden, daß Frankreich in den ersten Tagen überhaupt keine Kohle bekommen habe und gezwungen gewesen sei, mit den einzelnen Kohleninteressenten Verhandlungen anzubahnen. Die Anweisung des Reichskohlenkommissars, auch gegen Bezahlung keine Kohle nach Frankreich und Belgien zu liefern, habe diese Verhandlungen zum jähen Abbruch gebracht. Um den Eisenbahnverkehr und vor allem den Anmarsch der Truppen nicht zu stören, habe Frankreich zunächst davon abgesehen, Kohlenzüge zu beschlagnahmen und sich auf Wegnahme der Kohlenschiffe beschränkt. Dann habe es schließlich auch versucht, Züge wegzunehmen, was nicht gelungen sei. Jetzt erhalte weder Frankreich noch Belgien aus dem Ruhrgebiet Kohle, während nach dem Osten der Abtransport noch ungehindert sei. Durch die Entwicklung der Stimmung sei es dahin gekommen, daß zur Zeit die Kohlenversorgung Deutschlands besser sei als vor dem Einmarsch, weil einerseits die Reparationskohle nunmehr auch deutschen Verbrauchern zufließe und andererseits die oberschlesische Kohle nunmehr ebenfalls für Deutschland ganz frei sei. Dabei müsse man aber eins beachten, daß die Förderung erheblich nachgelassen habe, was als Folge der zahlreichen Teilstreiks anzusehen sei. Nach seiner Auffassung müsse man Dauerstreiks nach Möglichkeit vermeiden und zu verhindern suchen, daß die Arbeiter auf die Straße gebracht würden. Daß die Kohlenversorgung schlechter werden würde, sei vorauszusehen. Für diesen Fall müßten dann evtl. Maßnahmen getroffen werden, wie Rationierung der Kohle und Betriebseinschränkungen4. In erster Linie würden dabei mit Kohle zu versehen sein die lebenswichtigen Betriebe. Auch die durch die Betriebseinschränkungen hervorgerufene Arbeitslosigkeit müsse besonders behandelt werden und könne nicht auf eine Stufe mit der gewöhnlichen Arbeitslosigkeit gestellt werden.
Herr Baltrusch führte folgendes aus: Er sei überzeugt, daß, solange die Gefahr bestehe, der innere Hader unter den Deutschen schweigen werde. Den Generalstreik halte er aus denselben Gründen, die der Herr Reichswirtschaftsminister bereits angeführt habe, für gefährlich. Auch die Presse müsse über die tatsächliche Lage genauer informiert werden. Die jetzige Taktik der Regierung halte er für richtig. Man müsse darauf sehen, daß der Lohn weitergezahlt werde, um die Not im Lande zu mildern. Er verstände es nicht, daß die deutschen[188] Eisenbahner für Militärtransporte der Gegner hilfreiche Hand geleistet hätten. Auch eine Rationierung der Kohle sei ins Auge zu fassen, und sehr wichtig sei die Ernährungslage. Vielleicht käme ein Aufruf der Landwirtschaft zur Spende von Lebensmitteln in Frage. Auch müßten Zwischenkredite für Konsumgenossenschaften zur Verfügung gestellt werden. Den Beamten und Arbeitern müßten von Berlin aus klare Anweisungen über ihr Verhalten erteilt werden. Er halte die Einrichtung einer Generalkommission der Gewerkschaften bei irgendeiner Reichsstelle für erforderlich, um den unbedingt nötigen Konnex zwischen Gewerkschaften und Regierung aufrechtzuerhalten. Auch müsse die Regierung Vorsorge treffen, daß Geldsendungen möglichst unbehelligt blieben. Zum Schluß betonte er, daß er ein Gegner jeder Katastrophenpolitik sei5.
Herr Meyer führte aus, daß die Stimmung im Ruhrgebiet nunmehr besser sei, nachdem anfangs sich Schwierigkeiten aus der Tatsache ergeben hätten, daß die Arbeiter die Maßnahmen der Regierung nicht verstanden hätten6. Das Ziel der Politik müsse bleiben, die Gegner an den Verhandlungstisch zu bringen, und es müsse jede verhetzende Propaganda durch die Presse verhindert werden7. Dieser Krieg werde mit Lebensmitteln, nicht mit Kanonen geführt werden8. Mit rauher Faust müsse gegen Wucher vorgegangen werden.[189] Voraussetzung dafür, daß sie als Führer der Gewerkschaften ihre Leute in der Hand behielten, sei eine Verständigung mit der Regierung und eine klare Haltung des Kabinetts. Er glaube, daß zur Zeit keine günstige Stimmung für einen Generalstreik sei. Es wäre überhaupt besser, man überlasse die Streikfrage den Gewerkschaften.
Staatssekretär Dr. Geib machte davon Mitteilung, daß im Reichsarbeitsministerium bereits eine Informationsstelle bestünde, die heute morgen ihre erste Sitzung abgehalten hätte. Eine ähnliche Stelle werde in Münster eingerichtet und sonstige fliegende Stellen in Dortmund und Essen.
Der Reichskanzler erklärte, er hätte sehr gern im Rheinland persönlich gesprochen, aber die Arbeit lasse ein Verlassen Berlins zur Zeit nicht zu.
Der Reichsernährungsminister besprach eingehend die Frage der Verpflegung im Ruhrgebiet. Er sei vor 2 Tagen im Ruhrgebiet gewesen und hätte mit den zuständigen Behörden und Organisationen Fühlung genommen und die nötigen Anordnungen getroffen. Er könne bekanntgeben, daß Mehl in allen Bezirken für 14 Tage bis 3 Wochen vorhanden sei und für weitere 10 Tage im Anrollen sei. Nur 2 Bezirke hätten auf 6 Tage Mehl, und diese Bezirke würden jetzt noch besonders beliefert.
Kartoffeln: Die Hälfte der Bevölkerung sei bis zur nächsten Ernte versorgt, die andere Hälfte sei auf Lagerbestände und die Zufuhr angewiesen. Er habe Anordnung getroffen, daß größere Mengen nach dem Ruhrgebiet geleitet würden und die Bestände aufgefüllt würden. Der Bezirk Hannover werde als der nächstgelegene ein größeres Quantum abgeben.
Was die Fettversorgung anlange, so sei dies die schwierigste Frage. Er glaube aber, auch hier Mittel und Wege gefunden zu haben, eine Besserung eintreten zu lassen. Die Rationierung der Fetthändler sei für den Ruhrbezirk aufgehoben. Auch würde alles getan werden, um größere Fettmengen in das Ruhrgebiet einzuführen.
Herr Schneider regte eine ausreichende Versorgung der süddeutschen Industrie mit Kohle an. Was die Ernährung anbetreffe, so sei der Hunger der gefährlichste Feind der Widerstandskraft. Er fragte ferner, wie es mit den Truppenbewegungen an der oberschlesischen Grenze sei. Man spreche allgemein von einer Mobilmachung Polens9.
[190] Nachdem noch Herr Metzinger und Herr Martmöller ähnliche Ausführungen gemacht hatten, führte Staatssekretär Dr. Geib aus: Es sei dafür gesorgt, daß bei einem Streik die Lohnzahlungen fortgesetzt würden. Es sei ferner geplant, zu allen Unterstützungen Zuschläge zu gewähren. In Betracht kämen:
a) | Die allgemeine Armen- und Wohlfahrtsfrage. Das Reich, Preußen und Bayern hätten beschlossen, sich an der Aufbringung einer Unterstützungssumme für das besetzte Gebiet zur Hälfte zu beteiligen. |
b) | Kriegshinterbliebenen- und Kriegsbeschädigtenfürsorge. Bis jetzt seien ausgeworfen 38 Millionen Mark für das besetzte Gebiet; für Januar bis April, also für 3 Monate, wurden 530 weitere Millionen bereitgestellt. |
c) | Sozialrentner. Die laufende Fürsorge würde allgemein erhöht. Bis jetzt betrüge die dafür aufzuwendende Summe 1½ Milliarden. Für das besetzte Gebiet wurde eine weitere halbe Milliarde zur Verfügung gestellt. |
d) | Kleinrentner. Bis jetzt erforderten diese Unterstützungen etwa 4 Milliarden, davon 160 Millionen für das besetzte Gebiet. Hier wurde 1 weitere Milliarde für das besetzte Gebiet zur Verfügung gestellt. |
e) | Erwerbslosenfürsorge. Auch hier kämen Zuschläge in Frage. |
Herr Leipart schnitt die Frage des Boykotts französischer Waren an und hielt eine eingehende Prüfung solcher Maßnahmen für erforderlich. In Amsterdam habe sich die Internationale mit der Frage der Unterstützung Deutschlands beschäftigt und die Möglichkeit eines Generalstreiks erwogen10. Morgen würde in Amsterdam über einen Proteststreik der Arbeiter der Welt aus Anlaß des Ruhrgebiets [!] verhandelt11. Er halte es für erforderlich, daß das Reich[191] auf die Arbeitgeber dahin wirke, daß Lohndifferenzen möglichst unterblieben. Das könne wohl am besten dadurch geschehen, daß der Reichsarbeitsminister rechtzeitig in die entstehenden Streitigkeiten eingreife.
Staatssekretär Dr. Geib sagte dies zu.
Herr Leipart führt fort, daß man evtl. die Zuschußwirtschaft zur Vermeidung einer weiteren Erhöhung des Brotpreises ins Auge fassen müsse. Auch die Baustoffpreise seien unberechtigt, und es müsse alles geschehen, um das Baugewerbe, das fast allen Berufen Arbeit bringe, zu heben.
Reichswirtschaftsminister machte davon Mitteilung, daß bei einem Boykott der französischen Minette etwa die Hälfte der Förderung Frankreichs, d. h. 200 000 t liegenblieben. Wir führten zur Zeit Eisen aus Frankreich ein. Die Industrie sei bereit, diese Verträge zu kündigen, wenn die Einfuhr aus anderen Staaten erleichtert würde.
Der Reichskanzler machte davon Mitteilung, daß die Regierung beschlossen habe, die Wuchergesetze schärfer in Anwendung zu bringen. Eine Änderung der bestehenden Bestimmungen habe sich nicht als möglich erwiesen. Was die Frage der Mobilmachung an der östlichen Grenze betreffe, so habe die Regierung keinerlei Mitteilung darüber, daß sich diese Maßnahmen gegen Deutschland richteten12.
Darauf wurde die Verhandlung geschlossen13.
Fußnoten
- 1
Nach beiliegender handschriftlicher Anwesenheitsliste.
- 2
Das Allrussische Zentral-Vollzugskomitee hatte am 13. 1. einen Aufruf gegen die Ruhrbesetzung erlassen (Schultheß 1923, S. 355).
- 3
Die amerik. Truppen ziehen bis zum 24. 1. aus ihrer Koblenzer Zone ab, die daraufhin von den Franzosen besetzt wird. Vgl. dazu Henry T. Allen: Mein Rheinland-Tagebuch 1919–1923, 1923, S. 334 ff.
- 4
Der RFM hatte am 22. 1. den RK darauf hingewiesen, daß eine rechtzeitige Einstellung auf die zu erwartende Verknappung der Heizmittelvorräte im unbesetzten Gebiet für den endgültigen Erfolg des Widerstandes von wesentlicher Bedeutung sei. „Ich erblicke daher in der sofortigen planmäßigen Durchführung einer weitgehenden Einschränkung des Kohlenverbrauchs auf allen Gebieten, insbesondere auch bei der Eisenbahn, ein dringendes Gebot der Stunde. Die Maßnahmen zur Durchführung dieses Gedankens dürften von dem Herrn RWiM und dem Herrn RVM in die Wege zu leiten sein.“ (R 43 I/205, Bl. 195).
- 5
In einem undatierten Vermerk „Material zur Besprechung mit den Gewerkschaften“ berichtete ORegR Offermann: „Herr Baltrusch erklärte mir folgendes: Man müsse eine Politik auf lange Sicht ins Auge fassen, denn nach seiner Ansicht würde die Ruhrbesetzung von längerer Dauer sein. Er beabsichtige daher folgendes vorzuschlagen: 1) Rationierung der Kohle, 2) Rationierung der Eisen- und Stahlproduktion, 3) Versorgung der volkswirtschaftlich wichtigen Betriebe mit der notwendigen Kohle, 4) Versorgung des Ruhrgebiets mit Lebensmitteln, evtl. unter Zuziehung der Konsumgenossenschaften, 5) Wenn erforderlich, Ersatz des Geldlohns durch Naturallohn, 6) Belegschaftswechsel: an Stelle von verheirateten unverheiratete Beamte und Arbeiter einzusetzen, 7) Das Reichsbankgold müsse in Sicherheit gebracht werden, 8) Die Reichspressestelle müsse sich davor hüten, eine falsche Stimmung zu erzeugen, 9) Da der Streik in vaterländischem Interesse erfolgen werde, müsse das ganze Deutsche Reich, soweit es nicht besetzt sei, Opfer bringen, und zwar würden im Augenblick wohl freiwillige Spenden (Namensnennung) in Frage kommen.“ (R 43 I/205, Bl. 205). Diese Punkte trug Baltrusch bereits am 22. 1. in einer Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften und der Konsumvereine im RWiMin. vor (Protokoll in R 43 I/1493, Bl. 240-246).
- 6
Am 18. 1. war in der Rkei vermerkt worden: „RegPräs. Grützner von Düsseldorf, die Handelskammer Essen und verschiedene Generaldirektoren des Ruhrreviers weisen darauf hin, daß unter der Arbeiterschaft, besonders unter den Vertretern und Führern der großen Bergarbeiterverbände eine gewisse Mißstimmung darüber herrscht, daß die Regierung sich bei ihren Verhandlungen stets nur an die Industrie wendet und daß sie nicht mit den Bergarbeiterführern verhandelt, sondern sie sogar noch im Unklaren über stattgefundene Verhandlungen läßt.“ (R 43 I/203, Bl. 369).
- 7
Am 22. 1. wandte sich bereits Heinig (AfA) in einer Besprechung im RWiMin. „gegen das ‚sündhafte‘ Verhalten der Presse, die zum Teil durch ihre Veröffentlichungen bei der Bevölkerung Hoffnungen erweckte, deren Nichterfüllung zur Katastrophe führen könne. Die Presse hat vor allem die Pflicht, darauf hinzuweisen, daß wir erst am Anfang der schweren Zeit stehen.“ (Protokoll der Besprechung in R 43 I/1493, Bl. 240-246, hier: Bl. 242). Baltrusch weist StS Hamm am 27. 1. noch einmal auf die „sensationelle Einstellung der Presse“ hin und fragt: „Sollte es nicht auf einer Pressekonferenz zu erreichen sein, daß die übertriebenen und blutrünstigen Überschriften auf der Titelseite der Tageszeitungen durch allgemeine Vereinbarungen verschwinden?“ (R 43 I/206, Bl. 214 f.). Die Rkei versichert am 30. 1., daß über die Pressestelle entsprechend eingewirkt werde.
- 8
Bereits am 17. 1. hatte Meyer anläßlich einer Besprechung beim OPräs. von Westfalen auf die schädlichen Wirkungen chauvinistischer Stimmungsmache hingewiesen (Protokoll der Besprechung in R 43 I/205, Bl. 60-64, hier: Bl. 62). Mit Schreiben vom 27. 1. verweist Meyer den RK auf die Kundgebungen am 25. 1. anläßlich der Ausweisung des Präs. des Düsseldorfer Landesfinanzamtes: „Nach dieser Kundgebung machten große Trupps Umzüge unter Absingung von Liedern. Unter anderem wurde gesungen: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen. Auf die anderen Auswüchse anläßlich dieser Umzüge will ich nicht besonders hinweisen, weil ich dieselben mit der heutigen aufgeregten Zeit entschuldige. Durch das Absingen der unpassenden Lieder ist die Arbeiterschaft in Düsseldorf nicht nur stark beunruhigt worden, sondern sie hält den Atem an und fragt, ob sie unter solchen Umständen noch in der Lage ist, alles unbesehen mitzumachen, was gegen die Besatzung des Ruhrgebiets als notwendig erscheinen muß. […] Ich würde es unter den gegenwärtigen Umständen für sehr angebracht halten, wenn die RReg. in irgendeiner Veröffentlichung oder Kundgebung sich nochmals gegen nationalistische Auswertung der gegenwärtigen Situation wendet, weil darin eine große Gefahr liegt, daß große Teile der Arbeiterschaft sich aus der Einheitsfront loslösen und eigene Wege gehen. Für die Arbeiterschaft handelt es sich nicht darum, siegreich Frankreich zu schlagen, sondern um die Erhaltung der deutschen demokratischen Republik.“ (R 43 I/206, Bl. 171-173).
- 9
Die Presse berichtete in diesen Tagen verschiedentlich über den geplanten Einsatz deutschsprachiger polnischer Eisenbahner im Ruhrgebiet sowie über eine bevorstehende polnische Mobilmachung.
- 10
Das Büro des Internationalen Gewerkschaftsbundes in Amsterdam hatte bereits am 8. und 9.1.1923 die Frage des internationalen Generalstreiks im Zusammenhang mit dem drohenden Ruhreinmarsch erörtert. Der Internationale Gewerkschaftsbund hatte auf seinen Kongressen in Rom im April 1922 und in Den Haag im Dezember 1922 Entschließungen angenommen, die für den Fall einer Kriegsdrohung sofortige Arbeitsniederlegungen vorsahen. Zudem hatte die Haager Konferenz erklärt, daß die Politik der Sanktionen und Zwangsmaßnahmen eine Rechtsverletzung darstelle und den Keim zu neuen Kriegen lege. Es erwies sich jedoch als unmöglich, die Arbeiterschaft in Frankreich, Belgien, Italien und anderen Ländern für eine allgemeine Arbeitsniederlegung anläßlich der Ruhrbesetzung zu gewinnen. Die dt. Gewerkschaften gaben anläßlich des Ruhreinmarschs am 11. 1. eine Protesterklärung ab, in der es abschließend hieß: „Die freien Gewerkschaften Deutschlands rufen die Arbeiter aller Länder auf, ihnen den Kampf gegen die Verweigerung der fundamentalsten Grundrechte der Arbeitnehmer und gegen ihre Verelendung nicht allein zu überlassen, denn: Ihr Kampf ist auch der Kampf der Arbeiterklasse der ganzen Welt.“ (Abgedruckt in Ursachen und Folgen, Bd. V, S. 23 f.). Damit hofften die dt. Gewerkschaften, jedenfalls einen kurzen internationalen Proteststreik als Demonstration gegen die Ruhrbesetzung zu erreichen. Außerdem forderten sie auf einer Vorstandssitzung in Berlin am 12. 1. den Internationalen Gewerkschaftsbund zu einem Boykott frz. Waren und zu einer Transportsperre für Reparationskohlen auf. Vgl. dazu die offiziöse Darstellung des ADGB bei Lothar Erdmann: Die Gewerkschaften im Ruhrkampf, 1924, S. 62 ff.
- 11
Am 17. 1. hatte sich das Büro des Internationalen Gewerkschaftsbundes auf eine Resolution geeinigt, die zunächst die dt. Gewerkschaften zu einem 24stündigen Generalstreik zu Gunsten einer Schlichtung durch den Völkerbund aufforderte. Stimmten die dt. Gewerkschaften dem zu, sollten auch die anderen Länder zu einem 24stündigen Generalstreik aufgefordert werden. Am 19. 1. sprach sich die Mehrheit des Bundesvorstandes des ADGB gegen einen Generalstreik in Deutschland aus, wobei die Vertreter der Metall-, Transport-, Bergarbeiter und Eisenbahner für den Streik eintraten, so daß der Bundesvorstand keinen endgültigen Beschluß faßte. Stattdessen wurde der Bundesausschuß am 24. 1. mit dieser Frage befaßt; er fand sich bereit, im Ruhrgebiet eine Protestaktion zu unternehmen, im gesamten Reichsgebiet aber nur dann, wenn es gleichzeitig zu einem internationalen Generalstreik käme. Den Boykott frz. Waren lehnte der Bundesausschuß ab. Darauf beschließt der Internationale Gewerkschaftsbund auf seiner Tagung in Amsterdam am 26. und 27. 1., von einem internationalen Generalstreik abzusehen. Statt der Gewaltpolitik wird allgemein eine Friedens- und Verständigungspolitik propagiert, für die sich die Gewerkschaften jeweils in ihren Ländern einsetzen sollen. Vgl. dazu Lothar Erdmann, a.a.O.
- 12
Alarmierende Nachrichten über politische Spannungen in Oberschlesien gehen der Rkei erst am 26. 1. zu. So berichtet der Bevollmächtigte für Arbeitsfragen in Oberschlesien über die zunehmende Aktivität nationalsozialistischer Gruppen, die in engster Verbindung mit Selbstschutzorganisationen und alten Militärverbänden stünden. „Die nationalsozialistischen Kreise tun den Gewerkschaften schweren Abbruch; sie wirken genauso beunruhigend wie die Kommunisten und sind ein unruhiges Element, von dem man nie weiß, ob es nicht plötzlich Unruhen erregt, ja sogar gegen Polnisch-Oberschlesien vorgeht. Der polnische Selbstschutz, von den hiesigen Vorgängen genau unterrichtet, rüstet bereits dagegen, und es können dann die gespannten Gewehre auf beiden Seiten leicht losgehen. Es ist sogar zu befürchten, daß sie es auf deutscher Seite zuerst tun, wenn hier die Reichswehr die Sache nicht in der Hand hat.“ (R 43 I/366, Bl. 40-43). RKom. Kuenzer übersendet am 26. 1. den telefonischen Bericht eines Vertrauensmannes. Danach herrsche in Oberschlesien „in allen Teilen der Bevölkerung eine sehr große Erregung, weil man einen Angriff seitens der Polen befürchte. Es sei dadurch natürlich bei uns auch wieder der Oberschlesische Selbstschutz in den Vordergrund getreten, insbesondere in Beuthen machten sich einige junge Leute sehr bemerkbar. […] Dadurch entstehe auf polnischer Seite eine große Erregung, die rückwirkend wieder diesseits der Grenze die Gerüchte hervorrufe, die Polen wollten uns angreifen. Die Stimmung sei so aufgeregt, und zwar in allen Kreisen, daß man befürchten müsse, daß dort Dummheiten vorkommen, die Deutschland in große Unannehmlichkeiten bringen können.“ (R 43 I/366, Bl. 38).
- 13
Offermann fügt dem Protokoll noch handschriftlich hinzu: „Für die Presse wurde anliegende Notiz vereinbart“. In der Pressenotiz heißt es nach Erläuterung des Teilnehmerkreises: „In eingehender Erörterung wurde die gesamte durch die rechtswidrige Gewaltaktion Frankreichs und Belgiens hervorgerufene Lage durchgesprochen und dabei volle Einigkeit über die zu ergreifenden Maßnahmen festgestellt. Seitens der Gewerkschaften wurden noch Anregungen gegeben, die von den zuständigen Ressorts verfolgt werden. Die einmütige Auffassung der Teilnehmer an der Besprechung ging dahin, daß in der erfolgreich begonnenen Abwehr des Recht und Frieden brechenden, mit militärischer Gewalt unternommenen Einbruchs mit allen zweckdienlichen Mitteln fortgefahren werden muß.“ (R 43 I/206, Bl. 92).