Text
Nr. 169
Vermerk des Staatssekretärs Hamm über die Aufnahme des Industrieangebots. 26. Mai 1923
R 43 I/37, Bl. 291 Durchschrift
Herrn Reichskanzler.
1. Müller-Franken wird 5½ Uhr mit Hilferding kommen.
2. Soll für 4½ Uhr zu Exzellenz Becker noch Brauns geladen werden, ebenso für abends 7 Uhr?1
[514] 3. Der Reichsverband der Industrie hat sein Schreiben2 bereits gestern den Parteiführern gegeben. In der Arbeitsgemeinschaft wurde besprochen, ob es veröffentlicht werden soll. Das Präsidium will dies spätestens bis Dienstag [29. 5.] tun3. Stresemann erwartet von der Veröffentlichung eine fördernde Wirkung. Fischer-Köln widersprach, weil die Veröffentlichung zu unerwünschten aus- und inländischen Debatten Anlaß geben und damit die Wirksamkeit des Schrittes, den er an sich für sehr begrüßenswert und ausreichend hält, beeinträchtigen werde. Ich schließe mich dieser Auffassung an: die Veröffentlichung nimmt Bezug auf eine Aufforderung zur Äußerung, wie sie an andere Berufe in dieser Form nicht ergangen ist, weckt also schon deshalb deren Widerspruch; es steht nun dahin, ob Landwirtschaft, Handel und Banken, die die übrigen 300 Millionen auf sich nehmen wollen, diese in einer ihr Selbstgefühl mindestens unerwünschten Weise in die Hand zu zwingen versuchen[!].[515] Ob die Stelle über den Achtstundentag nicht unerwünschte Äußerungen der Gewerkschaften hervorruft, steht im Augenblick noch dahin4. Eine solche gegensätzliche Stellung der Gewerkschaften würde auch von den Sozialdemokraten mitgemacht werden, die, wie ich höre, selbst ihre Auffassung in dieser Sache von den Gewerkschaften abhängig machen. In der Arbeitsgemeinschaft ist, wie ich höre, besonders besprochen worden, daß man von einer Annuität von 1,5 Milliarden hier ausgehen müsse. Das bedeutet Verzinsung von 30 Milliarden, nicht von 20. Hilferding meinte, man müsse dann aber auch die 30 Milliarden unbedingt nennen, denn sonst könne man nicht ablösen. Von anderer Seite wurde gemeint, daß die Ablösungsfrage jetzt nicht im Vordergrund stehe.
4. Das Preußische Ministerium des Innern glaubt bestimmt, daß die Dinge in Gelsenkirchen heute und morgen in Ordnung gebracht werden. Verstärkungen sind auf den Weg gesetzt5. Das Reichswehrministerium übernimmt für das nichtbesetzte Gebiet volle Gewähr; auch wenn an mehreren Orten zugleich Brand ausbrechen sollte, wird ein Aufruhr mit den gesetzlichen Mitteln ohne Verstärkung niedergeworfen werden können. Verstärkungen könnten mindestens jederzeit und in allen Gegenden herangezogen werden.
(gez.) Hamm
Fußnoten
- 1
Über den Verlauf dieser Besprechungen fanden sich keine Aufzeichnungen in R 43 I. Nach Pressemeldungen übergaben Präsidialmitglieder des RdI am 26. 5. nachmittags (wohl 16.30 h) dem RK das Industrieangebot. Nach dem Empfang der sozialdemokratischen Parteiführer (17.30 h) folgte eine Besprechung mit den Führern der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft bis in die späten Nachtstunden hinein. Am 27. 5. findet eine Besprechung Cunos und Beckers mit Bücher statt; am 28. 5. empfängt der RK vormittags die Führer der DNVP und setzt damit die Parteiführerbesprechungen vom 26. 5. fort. Die Führer der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft besprechen sich untereinander, nachmittags konferieren Stresemann, Petersen und Marx mit dem RK. Über alle diese Besprechungen, die eine Krisensituation des Kabinetts Cuno markieren, fanden sich keinerlei Angaben in den Akten der Rkei.
Stresemann vermerkt in seinen Tagesnotizen: „26. Mai: Besprechung mit Cuno und Rosenberg/Starke Differenzen. ‚Hinter mir steht nur noch DVP.‘ (Äußerung von Cuno). 27. Mai: Krisis betr. Kabinett auf Höhepunkt. 28. Mai: Aufsatz Welt am Montag ‚Das wankende Kabinett‘ / Angriffe der Hambg. Deutschnationalen werden bekannt / Sitzung der A(rbeits)gemeinschaft / Nm. mit Petersen und Marx bei Cuno / dreistündige Unterredung. Mein Vorschlag zum Kompromiß.“ (Stresemann: Vermächtnis Bd. I, S. 65).
- 2
Abgedruckt als Dok. Nr. 168.
- 3
Tatsächlich erfolgt die Veröffentlichung auf Wunsch des RK erst am 29. 5.; doch hatte die DAZ bereits am 26. 5. die Übergabe des Angebots an den RK angekündigt, und am 28. 5. wurden bereits wesentliche Teile des Industrieangebots, zum Teil entstellt, in der frz. und dt. Presse wiedergegeben. Die DAZ greift deshalb den RK in einem Leitartikel scharf an, den sie am 29. 5. zugleich mit dem Text des Angebots veröffentlicht. Hier heißt es u. a.: „Durch überflüssige Geheimniskrämerei hat sich Herr Cuno schon um manche Erfolge gebracht, so damals bei der Geheimhaltung des deutschen Angebots für die Pariser Konferenz vom Januar dieses Jahres, so auch diesmal wieder. Das Kabinett glaubt, auf eine Geheimhaltung der Erklärung der deutschen Industrie bestehen zu müssen, um wichtige Reichsinteressen nicht zu gefährden. Der Erfolg ist wieder einmal, daß der Inhalt dieser Denkschrift, wenn auch in gefälschter Gestalt, von Frankreich der Welt mitgeteilt wird. Der weitere Erfolg ist, daß die regierungsfeindliche Presse im Inlande auf Grundlage dieser vom Landesfeind ausgehenden Fälschungen sowie gleichwertiger ‚Mitteilungen‘ von ‚besonderer Seite‘ über die Erklärung der Industrie in einer zum Teil hysterisch anmutenden Weise herfällt und mit ihrem tendenziösen Hallo die ruhige Beurteilung dieser Erklärung sowie der gesamten politischen Situation unmöglich macht.“ (DAZ Nr. 242). Um beruhigend zu wirken, gibt die bürgerliche Arbeitsgemeinschaft am 28. 5. folgende Erklärung an die Presse: „Die Parteiführer des Zentrums, der DVP und der DDP beschäftigten sich heute morgen bei der Besprechung der politischen Lage mit dem Angebot des RdI an den RK. In den von der Industrie angebotenen Leistungen sahen die Parteiführer ein erfreuliches Zeichen dafür, daß die deutsche Wirtschaft in Erkenntnis der Lage bereit ist, für die Freiheit des Vaterlandes auch die schwersten Opfer zu bringen. Die für die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gemachten Voraussetzungen werden bei der Verwirklichung der angebotenen Garantie durch die notwendigen Gesetze Gegenstand alsbaldiger parlamentarischer Behandlung sein müssen und zwar auf Grundlage des bereits in der Note vom 14. November 1922 niedergelegten Regierungsprogramms.“ (R 43 I/37, Bl. 201). Hamm vermerkt dazu am 28. 5.: „Die Arbeitsgemeinschaft hat die anliegende Pressemitteilung erlassen; sie will damit die unglückliche innenpolitische Wirkung der Pressemitteilung des Industrieangebots abbiegen. Die taktische und publizistische Aufmachung des Industrieangebots halte ich für ebenso töricht als unheilvoll. Das ‚Journal‘ bringt schon einen natürlich entstellten Auszug und sucht damit die außenpolitische Wirkung abzuschwächen. Pressemitteilung der RReg. wird abends vorgelegt werden.“ (R 43 I/37, Bl. 200). In dieser Presseerklärung (Entwurf in R 43 I/37, Bl. 214) begrüßt die RReg. das Schreiben des RdI als eine Willensäußerung führender Wirtschaftskreise, „an der Lösung der schwierigen Garantiefrage aus allen Kräften mitzuarbeiten und die für eine brauchbare Regelung des Gesamtproblems erforderlichen Opfer zu bringen. Die Regierung wird unter eigener Verantwortung und in voller Unabhängigkeit prüfen, wie weit die Darlegungen des Schreibens über die Bemessung und Verteilung der von der Wirtschaft aufzubringenden Leistungen bei den weiteren Schritten der RReg. Verwertung finden können. Denn so sehr es zu begrüßen ist, daß in Erkenntnis der Notwendigkeit großer Opfer einzelne Stände sich bereitfinden, an den zu lösenden Problemen mitzuarbeiten, so wenig entbindet dies die Regierung von der Aufgabe, von sich aus Maß und Verteilung der Leistungen unter Berücksichtigung der Interessen aller Erwerbsstände führend zu bestimmen und unabhängig festzulegen.“ (u. a. in DAZ Nr. 242 vom 29. 5.).
- 4
Tatsächlich findet das Industrieangebot bei den Gewerkschaften schärfste Ablehnung; vgl. ihr Schreiben an den RK vom 1. 6. (Dok. Nr. 177). In einem ‚Bericht über die Stimmung in der Gewerkschafts- und Beamtenbewegung‘, am 16. 6. vom RKom. Kuenzer an Hamm gesandt, heißt es: „Geradezu aufputschend hat das Industrieangebot in Arbeitnehmerkreisen gewirkt. Die Gewerkschaften aller Richtungen stellen dem Angebot ein glattes ‚unannehmbar‘ entgegen.“ (R 43 I/676, Bl. 280-288, hier: Bl. 281f).
- 5
In Gelsenkirchen war es den Kommunisten nach blutigen Zusammenstößen mit Selbstschutz- und Feuerwehreinheiten, die sieben Tote forderten, am 23. und 24. 5. gelungen, das Polizeipräsidium zu besetzen und vorübergehend die Macht in der Stadt an sich zu bringen. Die frz. Truppen wahrten wohlwollende Neutralität. Am 25. 5. übernahm gewerkschaftlicher Selbstschutz den Ordnungsdienst in Gelsenkirchen, während die Kommunisten sich mit zunehmendem Erfolg um die Organisierung eines Generalstreiks im gesamten Ruhrgebiet bemühten.