Text
Nr. 158
Der Vertreter der Reichsregierung München an die Reichskanzlei. München, 14. Mai 1923
[Betrifft: Verhalten der Reichswehr in Bayern]
Vertraulich1!
Bei einem heutigen Besuch kam Herr von Knilling auf die Haltung der hiesigen Reichswehr gegenüber den Nationalsozialisten zu sprechen. Er erwähnte dabei, daß, wenn auch nicht General v. Lossow selbst, so doch ein Teil der Offiziere mehr oder weniger offen auf der Seite der Nationalsozialisten[474] stünden. So hätte bekanntlich die Reichswehr am 1. Mai den Nationalsozialisten auf dem Oberwiesenfeld einen großen Teil der Waffen geliefert, obwohl man gewußt hätte, daß sie diese Waffen dazu benützen wollten, um die sozialistischen Versammlungen zu sprengen2. Als Erklärung sei angegeben worden, sie hätten geglaubt, damit die Regierung zu unterstützen3. Andererseits aber seien beispielsweise der Polizei am 1. Mai zwei Maschinengewehre, um die sie offiziell gebeten hätte, von der Reichswehr verweigert worden.
Haniel
Fußnoten
- 1
Abschriften dieses Schreibens werden am 17. und 18. 5. an den RPräs., den RWeM, den RIM und den RAM persönlich und eigenhändig gesandt. Am 14. 6. berichtet v. Haniel vertraulich an Hamm: „Bei meinem heutigen Besuch redete mich Herr v. Knilling auf den Bericht an, den ich nach Berlin über die Haltung der hiesigen Reichswehr gegenüber den Nationalsozialisten am 1. Mai erstattet habe. Der Bericht habe in Berlin viel Staub aufgewirbelt. Er sei darauf unter anderem auch vom Herrn RPräs. und vom RWeM angesprochen worden. Nachträglich hätten die in dem Bericht erwähnten Tatsachen eine Beleuchtung erfahren, die sie in milderem Lichte erscheinen ließen. Es sei ihm auch gelungen, diese mildere Auffassung den maßgebenden Stellen beizubringen. Im übrigen habe er die betreffenden Äußerungen seinerzeit nur gesprächsweise getan, nicht aber um die Reichswehr offiziell anzuklagen. Selbstverständlich habe ich in meinem Bericht vom 14. vor. Mts. die Äußerungen des MinPräs. genau so wiedergegeben, wie sie gefallen sind.“ (R 43 I/2232, S. 557).
- 2
Über die Münchener Ereignisse vom 1. Mai hatte v. Haniel ausführlich der Rkei am 30. 4., 1. und 2. 5. berichtet. Danach war es bereits vor den geplanten Maifeiern der Gewerkschaften zu scharfen Erklärungen und Aufrufen der nationalsozialistischen und vaterländischen Verbände gekommen, so daß die bayer. Reg. sich veranlaßt sah, die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit zu ermahnen. Schließlich verbot sie den geplanten großen Maiumzug der Gewerkschaften und Kommunisten und gestattete ihnen lediglich kleinere Umzüge und Zusammenkünfte in ihren Versammlungslokalen. Die Linke kritisierte das Verbot als „einen Kotau der Bayerischen Regierung vor den Hakenkreuzlern“, zumal die nationalsozialistischen Sturmtrupps sich am 1. Mai auf dem Oberwiesenfeld bewaffnet versammeln durften. Trotz der Absperrungsmaßnahmen durch Reichswehr und Landespolizei kam es zu einzelnen Zusammenstößen. Am 3. und 4. Mai wurde im bayer. LT über diese Ereignisse lebhaft debattiert (Bericht der ‚Bayer. Staatszeitung‘ und Pressestimmen übersandte die Reichsvertretung am 5. 5.), Innenminister Schweyer wich dabei den Fragen nach der Herkunft der vielen z. T. schweren Waffen aus, versicherte aber: „Ich bin mit allem Ernst bemüht, dieser Sache auf den Grund zu gehen und kann nur wiederholen, daß mit General Lossow ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten stattfindet und daß er mit uns der Auffassung ist, daß man sich von den vaterländischen Verbänden nicht alles bieten lassen kann, was hier in den letzten Tagen geschehen ist.“ (R 43 I/2232, S. 499-513).
- 3
Die beteiligten Kampfverbände hatten sich darauf berufen, vom Münchener Polizeipräs. Nortz als Hilfsordnungstruppen aufgeboten zu sein, was Schweyer vor dem LT bestritt. Tatsächlich sah sich Nortz aber wegen der Kritik an seiner undurchsichtigen Haltung gegenüber den vaterländischen Verbänden genötigt, von seinem Amt zurückzutreten.