Text
Nr. 163
Staatssekretär Brugger an den Reichskanzler. 20. Mai 1923
Betreff: Politische Lage im altbesetzten Gebiet.
Am 17. Mai 1923 fand in Gießen unter meinem Vorsitz eine Besprechung statt mit den Vertretern der von der Besetzung betroffenen Länder über die politische Lage im altbesetzten rheinischen Gebiet. Der Bedeutung der Sache entsprechend waren vertreten: Preußen durch OPräs. Fuchs, MinDir. Loehrs, RegPräs. Saassen Trier; Bayern durch den Staatskommissar für die Pfalz GehR Wappes und ORegR v. Eberlein; Hessen durch Staatsminister v. Brentano, Staatskommissar Kranzbühler, Staatsrat Wagner, MinDir. Lorbach, LegR Heinemann.
Die Genannten verbreiteten sich eingehend über die politische Lage und die Stimmung im altbesetzten rheinischen Gebiet. Ihre Darlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Abwehrwille ist in der rheinischen Bevölkerung unvermindert stark, ja durch das gewalttätige Vorgehen der Franzosen eher[493] noch gesteigert. Die tief einschneidenden Maßnahmen der Gegner haben aber in der letzten Zeit die Abwehrkraft geschwächt. Es besteht deshalb auch in der rheinischen Bevölkerung der Wunsch, die Reichsregierung möge auf dem Wege ihrer Bemühung um Verhandlungen verharren und in absehbarer Zeit zu einer Regelung mit den Gegnern gelangen. Einen baldigen Erfolg dieser Verhandlungen wünschen die rheinischen Kreise umsomehr, als sie aufgrund ihrer Erfahrungen die Überzeugung gewonnen haben, daß die Zeit nicht für uns arbeitet. Dabei war man durchaus der Meinung, daß der gegenwärtige Widerstand bei vorsichtiger Taktik noch lange fortgesetzt werden könne.
Zu der Frage der Taktik wurde bemerkt, daß in den ersten Abschnitten des Abwehrkampfes, wo die Maßnahmen der Gegner noch nicht so tiefeingreifend gewesen seien, die starre Abwehr mehr am Platze gewesen sei als jetzt, wo die gehäuften schweren Maßregeln immer mehr zu der Überlegung zwängen, wie dem Volke die Fortführung der Existenz, insbesondere die notwendige Lebensmittel-, Kohlen- und Rohstoffversorgung gesichert werden könne. Es gelte vor allem, den Rest von Beamten, der nach den zahlreichen Ausweisungen verblieben sei, möglichst vor der Ausweisung zu bewahren. Eine solche Erhaltung des Beamtentums sei umso notwendiger, als mit einem schnellen Abschluß der Ruhraktion doch nicht gerechnet werden könne. Andererseits bestehe begründeter Anlaß zu der Annahme, daß die Franzosen nach der völligen Vernichtung des deutschen Verwaltungsapparates sich mit ihren weitgehenden Plänen mehr vorwagen würden. Es gelte darum, diesen Zeitpunkt möglichst hinauszuschieben. Für sämtliche drei Länder wurde festgestellt, daß in Verfolg eines von den vereinigten Aktionsausschüssen der politischen Parteien des Rheingebiets am 21. April d. J. in Bensheim gefaßten Beschlusses freiwillige Helfer aus intellektuellen Kreisen (hauptsächlich aus Justizkreisen) im Begriffe seien, sich in die politische Verwaltung einzuarbeiten, um gegebenenfalls dort in die Bresche zu springen, wo diese Verwaltung gänzlich verwaist ist.
Im einzelnen wurde für die bayerische Pfalz ausgeführt, daß die von den Franzosen erzwungene Einstellung des Verkehrs mit Lastkraftwagen und Autofahrzeugen dazu führen könnte, daß die Franzosenzüge in steigendem Maße von der deutschen Bevölkerung benützt würden. Die Benützung sei zwar zur Zeit örtlich verschieden und im allgemeinen gering, im Durchschnitt aber stärker als bisher, besonders dadurch, daß aus dem unbesetzten Deutschland zureisende Geschäftsleute vielfach trotz aller Belehrung sich der Franzosenzüge bedienten1.
[494] Für Preußen wurde auf den scharfen Unterschied zwischen dem altbesetzten und dem Einbruchsgebiet hingewiesen. Im altbesetzten Gebiet herrsche nach einer mehr als vierjährigen Besetzung und einer ebenso langen Gewöhnung der Bevölkerung an die Anordnungen der Besatzungsbehörden eine ganz andere Einstellung als im Ruhrgebiet, zumal die rheinische Bevölkerung noch eine lange vertragsmäßige Besetzung vor sich habe. Diese trete daher für eine baldige erträgliche Regelung der Beziehungen zu den Besatzungsmächten stärker ein als das Einbruchsgebiet.
Im weiteren Verlaufe der Aussprache ergab sich, daß neue Gefahren der rheinischen Beamtenschaft drohen. So haben in Trier die Franzosen erklärt, sie würden den ganzen Postverkehr im Rheingebiete lahm legen, wenn die Post fortfahre, die Versendung von Briefen an das Ausfuhramt Ems zu verweigern. Es wurde die Befürchtung geäußert, daß im Falle der Verwirklichung dieser Drohung sich Massenausweisungen von Postbeamten anschließen würden und so eine überaus ernste Lage geschaffen werde. Schon die Einstellung des Postverkehrs werde die geistige Isolierung des Rheingebiets, die durch die Knebelung der Presse und den Paßzwang der Ordonnanz 1672 bedenkliche Ausmaße angenommen habe, noch erheblich steigern. Unter solchen Umständen werde dringend gewünscht, daß ein drohender Postkonflikt vermieden werde.
Eine weitere neue Gefahr kann der rheinischen Beamtenschaft daraus erwachsen, daß die Franzosen anfangen, von neu ernannten Beamten die Unterzeichnung eines Reverses zu verlangen, in dem sich der Beamte verpflichten soll, sämtlichen Ordonnanzen der Rheinlandkommission Folge zu leisten. Dies ist zuerst in St. Goar gegenüber einem kommissarischen Landrat versucht worden. Man war der Meinung, daß ein Nachgeben in diesem Punkte unmöglich sei. Umsomehr aber solle man bedacht sein, in Fällen, in denen eine ausweichende Taktik mit dem deutschen Standpunkt vereinbar sei, dem Beamten ein Verhalten zu gestatten, das ihm das Verbleiben auf seinem Posten ermögliche.
Für Hessen wurden im wesentlichen die gleichen Ausführungen gemacht wie für Preußen und Bayern. Minister von Brentano wies noch darauf hin, daß das Rheingebiet nun bald seit neun Jahren, nämlich seit Beginn des Weltkrieges unter außerordentlichen Verhältnissen stehe, Kriegs- und Besetzungszeiten mitgemacht habe und daß auf die dadurch geschaffene Besonderheit der Volksstimmung bei allen Entscheidungen der Zentralbehörden Rücksicht zu nehmen sei.
Allgemein wurde für notwendig erachtet, daß bei allen grundsätzlichen Entscheidungen der Berliner Zentralbehörden in Fragen des besetzten Gebiets die für das altbesetzte Gebiet zuständigen Stellen stets besonders zu hören seien und nicht die Einheitlichkeit des Vorgehens im Rhein- und Ruhrgebiet, sondern umgekehrt die Rücksichtnahme auf die Besonderheiten der beiden Besetzungsgebiete den Ausgangspunkt für die einzelne Entscheidung bilden solle.
[495] Anschließend wurden noch einige Einzelfragen erörtert. So wurde gegenüber dem Kabinettsbeschluß, der ausspricht, daß die von den Militärgerichten erkannten Geldstrafen nicht gezahlt werden sollen und nicht erstattet werden3, geltend gemacht, daß dieser Grundsatz dann einer Einschränkung erfordere, wenn es zur Vollstreckung der Geldstrafen komme, insbesondere zur Vollstreckung in den Hausrat des Bestraften oder zur Verhängung einer Freiheitsstrafe als Ersatz für die Geldstrafe. Man solle die daraus erwachsenden schweren seelischen Konflikte besonders der Beamtenschaft ersparen und in solchen Fällen die Bezahlung und Erstattung der Geldstrafen freistellen. Einig war man allerdings darüber, daß über die Bezahlung der Geldstrafen nichts veröffentlicht werden dürfe, damit nicht die Franzosen Anlaß nehmen, noch höhere Geldstrafen zu verhängen.
Dringlich wurde eine klare Regelung der Fürsorge für diejenigen ausgewiesenen Personen gefordert, die den freien Berufen (Ärzte, Rechtsanwälte usw.) angehören.
Gefordert wurden ferner scharfe Strafen für die Personen, die den gegnerischen Bestrebungen Vorschub leisten. Der bayerische Vertreter teilte mit, daß die bayerische Regierung durch ihre Notverordnung vom 11. Mai 1923 (Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 108) auf diesem Gebiete mit Androhung schwerer Zuchthausstrafen selbständig vorgegangen sei, weil sie Gefahr im Verzuge erblickt habe4. Eine baldige reichsrechtliche Regelung wurde für notwendig erachtet5.
Die Fortführung der Besatzungsbauten im altbesetzten Gebiet im Rahmen des Rheinlandabkommens und zur Einlösung des Versprechens der Reichsregierung, der rheinischen Bevölkerung Ersatzraum für die beschlagnahmten Familienwohnungen zu schaffen, wurde als unerläßlich bezeichnet. Die besondere Wohnungsnot, mit der das altbesetzte Gebiet durch die ausgedehnte Einquartierung gegenüber dem unbesetzten Deutschland vorausbelastet sei, erheische dringend die Fortführung dieser Bauten, durch die auch die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe gelindert werde, und die Reichsfinanzen mehr geschont würden, als bei der hohe Entschädigungsansprüche hervorrufenden Einquartierung. Die gleiche Stellung wurde eingenommen in der Frage der Lieferung von Verpflegungsmitteln für das Besatzungsheer, die die Reichsvermögensverwaltung zur Entlastung der rheinischen Landwirtschaft und aus Fürsorge für die Volksernährung im Rheingebiet übernommen hatte. Auch hier seien die Gründe, die zu dieser Übernahme geführt hätten, so schwerwiegend, daß kein genügender Anlaß bestehe, als Gegenmaßnahme nun diese Lieferungen einzustellen6. Durch die Einstellung der Besatzungsbauten und der Lieferung von Verpflegungsmitteln wurden überdies die erwarteten Verhandlungen mit den Gegnern zweifellos erschwert.
Von den Teilnehmern der Besprechung wurde besonders begrüßt, daß allseitig die ungeschminkte Wahrheit gesagt und eine vollständige Einmütigkeit[496] der Auffassung erzielt worden sei. Ich wurde ersucht, diese Darlegungen zur Kenntnis der Reichsregierung zu bringen. Indem ich dies tue, möchte ich ergebenst hinzufügen, daß meine Beurteilung der Verhältnisse sich mit den mitgeteilten Ansichten der Ländervertreter deckt. Die Ansichten der Ländervertreter stimmen auch überein mit den von den Aktionsausschüssen der politischen Parteien des Rheingebiets in den Tagungen zu Eberbach am 17. März 1923 und zu Bensheim am 21. April 1923 bekundeten Grundanschauungen. Ich habe hierüber seinerzeit berichtet7.
In Urschrift gez. Brugger
In Vertretung Graf Adelmann
Fußnoten
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Zu dieser Frage heißt es in einem sechsseitigen Bericht des Präsidiums der pfälzischen Kreisregierung vom 23. 5.: „Die Benützung der von den Franzosen betriebenen Eisenbahnen durch deutsches Publikum nimmt jetzt merklich zu. Obwohl jedermann weiß, wie sehr dieses Verhalten der deutschen Sache schadet, stellt der Einzelne oft sein Privatinteresse höher als vaterländische Gesichtspunkte und meint, auf seinen einzelnen Fall käme es nicht an. Die tatsächliche Verkehrsnot – namentlich der unerschwingliche Preis für Fuhrwerke aller Art – zwingt aber auch viele Leute in wirklich wichtigen Fällen (Krankheiten etc.) auf die Eisenbahn; man fährt dann heimlich, erst von der nächsten Station aus und nur bis dahin zurück. Haben aber andere dies beobachtet, dann nehmen sie sich ein Beispiel daran, und so werden die bisherigen inneren Hemmungen immer mehr überwunden. Die Frequenz der von den Franzosen gefahrenen Personenzüge ist als Gradmesser des Widerstandes der deutschen Bevölkerung von großer Wichtigkeit. Leider mehren sich auch die Fälle, in denen landwirtschaftliche und Industrieerzeugnisse zum Weitertransport auf die Eisenbahn verbracht werden. Die Beobachtung solcher Dinge ruft natürlich bei den Eisenbahnbeamten und -arbeitern großen Unwillen hervor, der sich mehrfach schon in der Bereitwilligkeit äußerte, den Eisenbahndienst bei den Franzosen aufzunehmen.“ (R 43 I/228, Bl. 138-140).