2.91 (cun1p): Nr. 91 Ludwig Quidde an Staatssekretär Hamm. 5. März 1923

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[292] Nr. 91
Ludwig Quidde an Staatssekretär Hamm. 5. März 1923

R 43 I /510 , Bl. 158

[Betrifft: Frage der Verhandlungsbereitschaft]

Lieber Herr Staatssekretär,

da Sie so überlastet sind, habe ich nicht gewagt, zu versuchen, ob ich Sie sprechen könnte1. Aber schriftlich muß ich mir als Vertreter der pazifist. Organisationen Gehör erbitten.

Die Stunde, in der der Reichskanzler morgen das Wort nimmt2, scheint mir geradezu eine Schicksalsstunde. Seit Wochen schreiben und reden Vertreter der Rechten so, als ob es selbstverständlich sei, daß, solange die Besetzung dauert, überhaupt nicht verhandelt werden dürfe, und als ob die Reichsregierung sich in diesem Sinne festgelegt hätte.

Demgegenüber scheint es mir unbedingt notwendig, daß der Reichskanzler klar Farbe bekennt, – nicht so, als ob er irgendeiner Agitation oder den Schwierigkeiten der Lage ein Zugeständnis mache, sondern so, als ob es sich um etwas Selbstverständliches handle, um eine Auffassung, die die Regierung immer gehabt habe, die so scharf auszusprechen, sie sich jetzt genötigt sehe, um all dem immer üppiger wuchernden Unfug und der gefährlichen Irreführung des Volkes ein Ende zu machen. Je schärfer, je besser! Gründe anzuführen, ist wohl kaum nötig. In der Hauptsache waren wir ja neulich, als ich bei Ihnen war3, schon einig. Ich gestatte mir nur noch auf ein paar Punkte aufmerksam zu machen.

1) Was den Einwand anlangt, solche Erklärung könne als Eingeständnis der Schwäche schaden, so gewinnt dieses Bedenken erst wirklich Bedeutung, wenn noch länger geschwiegen wird. Jedenfalls wird es von Tag zu Tag stärker. Jetzt kann der Reichskanzler noch in der Tonart sprechen, wie ich eben andeutete; aber es ist die elfte Stunde. Wenn er zu all dem unverantwortlichen Geschwätz – auch politischer Führer! – noch lange schweigt, so wird man annehmen, er sei einverstanden, und wenn er dann eines Tages doch die Bereitwilligkeit zu Verhandlungen erklärt, (was ja, wenn das berühmte „Wunder“ nicht eintritt, einmal kommen muß), dann ist es wirklich ein Eingeständnis der Schwäche.

2) Unter denen, die davon reden, daß unter gar keinen Umständen, solange die Besetzung andauert, verhandelt werden darf, sind gewiß eine Menge gutgläubiger Fanatiker, Leute, die sich die Situation nicht klar machen und die vor lauter nationaler Berauschung nicht über den Tag hinaus denken können. Es sind politische Narren. Neben ihnen aber gibt es auch solche, die mit vollem Bewußtsein mala fide etwas Unmögliches fordern, nur um das Volk in die Stimmung des bedingungslosen Widerstandes hineinzuhetzen und um[293] dann, wenn doch verhandelt werden muß, die Enttäuschung und Erbitterung für sich politisch auszunützen. Es sind gewissenlose Demagogen, politische Verbrecher. Denen muß der Reichskanzler das Handwerk legen, und gegen sie sollte er entsprechende Töne finden auf die Gefahr hin, daß die politische Einheitsfront mit denen, die auf den Untergang der Republik hinarbeiten, zusammenbricht. Heute hat der Reichskanzler in den halbwegs vernünftigen „nationalen“ Kreisen noch die Autorität, um den Kampf gegen diese Demagogie wagen zu können. Wie lange noch, wenn er die Dinge so weitertreiben läßt, steht dahin4.

3) Ernsteste Beachtung verdient die Wirkung auf die Bevölkerung im Ruhrgebiet. Deren Widerstandskraft ist nicht unerschöpflich. Die materielle Not wird immer schlimmer werden. Um auszuharren, wird die Bevölkerung von Tag zu Tag mehr die Aussicht brauchen, daß doch auch ein Ende abzusehen ist und zugleich den Glauben, daß sie ihre Opfer nur für Lebensinteressen des deutschen Volkes und nicht für Forderungen des politischen Prestiges bringt. Wollen Sie nicht vergessen, daß die Politik des friedlichen passiven Widerstandes ohne Mitwirkung der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften nicht durchgeführt werden kann5. Was der Reichskanzler, wenn ich recht unterrichtet bin, den Vertretern der Gewerkschaften vertraulich schon gesagt hat, muß er öffentlich sagen, wenn er nicht angesichts der deutsch-nationalen Propaganda eines Tages bei den Arbeitern in den Verdacht der Zweideutigkeit geraten soll.

Sie kennen mein sonstiges Programm: positive Vorschläge für die Reparationen und die damit verknüpften Fragen oder (wenn man solche Vorschläge wegen der unübersehbaren Wirkungen der Ruhrbesetzung nicht glaubt, machen zu können) Unterwerfung unter die Entscheidung einer unparteiischen Sachverständigenkommission; weiter Sicherheit, daß solche Vorschläge[294] nicht durch die Industrie und andere Wirtschaftskreise unwirksam gemacht werden (beide Punkte sind auch gegenüber den Arbeitern im Ruhrgebiet von Wichtigkeit); dazu Anrufung des Haager Tribunals oder des Weltgerichtshofs zur Entscheidung der Rechtsfrage6. – Aber dringender und wichtiger als diese so dringenden und wichtigen Forderungen ist die Erklärung, daß die Regierung jede ernsthafte Vermittlung anzunehmen bereit ist und daß sie überhaupt immer gewünscht hat, in dieser Weise zu verhandeln7.

Gern wüßte ich, welche Aufklärung sich für das Auftreten des Herrn Weismann gegenüber Herrn v. Gerlach gefunden hat8.

Mit herzlichen Grüßen hochachtungsvollst Ihr ergebener

L. Quidde

Fußnoten

1

Prof. Ludwig Quidde, Vors. des Deutschen Friedenskartells und wie Hamm Mitglied der DDP, war mit dem StSRkei persönlich befreundet.

2

RT-Rede Cunos vom 6. 3. in RT-Bd. 358, S. 9947  – 9958.

3

Lt. Vermerk Hamms hatte am 18. 2. eine Besprechung mit Quidde stattgefunden (R 43 I /510 , Bl. 155).

4

Am 15. 2. hatte Quidde bereits eine Denkschrift des Deutschen Friedenskartells zur Ruhrbesetzung übersandt und in einem sechsseitigen Begleitschreiben an den RK u. a. erklärt: „Daß die Agitation gegen das französisch-belgische Vorgehen durch Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften oder Verwertung unsinniger Gerüchte leider häufig Formen annimmt, die die größten Gefahren in sich bergen, wird die RReg. so wenig wie wir verkennen. Es ist nach unserer Meinung Pflicht der Regierung, dieser Ausartung der Agitation und besonders dem ebenso gefährlichen wie kindischen Gerede von heimlichen Rüstungen und russischer Hilfe weit schärfer und nachdrücklicher entgegenzutreten, als es bisher geschehen ist. […] Es besteht für die Öffentlichkeit keine volle Klarheit darüber, ob die Regierung bereit ist, eine ernsthafte Vermittlung, auch während die Besetzung andauert, insbesondere auch eine Vermittlung des Völkerbundes, anzunehmen – selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß eine Verständigung über die gesamte Reparationsfrage zugleich die Räumung des Ruhrgebiets und eine Verständigung über die begangenen Gewaltakte in sich schließt. Es scheint vor allem wichtig, daß die Regierung sich bereit erklärt, eine Vermittlung des Völkerbundes, auch des Völkerbundrates, anzunehmen. Nach unserer Kenntnis des Auslandes fordern nahezu alle jene Kreise, die im Ausland gegen das französische Vorgehen protestieren, zugleich ein Eingreifen des Völkerbundes. Die deutsche Regierung muß diesen Gedanken aufgreifen.“ (R 43 I /510 , Bl. 145-150).

5

Am 26. 2. hatte der ADGB-Vors. Leipart lt. Vermerk Hamms in einem Gespräch mit dem RK erklärt: „Im Ruhrgebiet wird besonders die Verhandlungsfrage erörtert. Man verlangt, daß die RReg. sich zu Verhandlungen bereit erklärt, und zwar zu Verhandlungen, die nicht erst von der vorherigen Räumung des Ruhrgebiets abhängig gemacht werden sollen. In Blättern der Rechten wird in nationalistischen Tönen verlangt, daß die RReg. nie verhandeln werde. Man glaubt in Gewerkschaftskreisen, daß die Regierung demgegenüber stärker auftreten soll.“ (R 43 I /210 , Bl. 59).

6

Diese Vorschläge hatte Quidde in ausführlichen Schreiben an StS Hamm vom 20. 1. und an den RK vom 15. 2. unterbreitet (R 43 I /510 , Bl. 133 f., 145-150).

7

In seiner Rede vor dem RT führt der RK am 6. 3. u. a. aus: „Nicht darum geht der Kampf, ob Deutschland sich verständigen will, sondern darum allein, ob Frankreich endlich den ehrlichen Willen Deutschlands zu einer freien Verständigung unter gleichberechtigten Gegnern und auf wirtschaftlich günstigen Grundlagen anerkennt, oder ob es weiter auf seiner Politik der Diktate, der Ultimaten, der Sanktionen und der Kapitulationen besteht. Darum fort mit dem Gerede über Verhandlungen, mit den Mahnungen zur Verständigung, die nicht an die deutsche, sondern auch an die französische Adresse zu richten wären! Angebote zu machen ist nicht an uns, und es ist auch zahlenmäßig unmöglich, solange wir täglich im Ruhrgebiet mit Wertvernichtungen rechnen müssen, die uns jede Klarheit über unsere eigene Leistungsfähigkeit nehmen. Oft genug sind wir mit Angeboten enttäuscht worden! Wenn uns ein Weg geöffnet wird, der frei von äußerem Druck uns gleichberechtigt in offener Aussprache zu Recht und Vernunft zurückführt, so wird die Regierung ihn gehen. Dabei wird sie keine Unterschrift geben unter eine Vereinbarung, die wir nicht halten können, und wir werden keiner Regelung zustimmen, die das Rheinland, das Ruhrgebiet oder andere widerrechtlich besetzte Gebiete im Stiche läßt und den durch Gewalttaten betroffenen Deutschen nicht den Weg zur Freiheit und Heimat freigibt. Will Frankreich die Kapitulation, so setzt Deutschland dem den unerschütterlichen Willen entgegen, nicht zu kapitulieren!“ (RT-Bd. 358, S. 9956  f.).

8

StS Hamm hatte am 18. 2. über sein Gespräch mit Quidde vermerkt: „Prof. Dr. Quidde sagte mir heute, die Friedensgesellschaft war in Berlin mit an einem Plakat beteiligt, das von dem deutschen Kampf um das Recht sprach und sich gegen Abenteurer wendet, die von geheimen Rüstungen usw. sprechen. Mit diesen könne es keine Einheitsfront geben. Herr v. Gerlach erzählte nun Prof. Quidde, daß Staatskommissar Weismann mit ihm über dieses Plakat gesprochen und den Wunsch geäußert habe, es verschwinden zu lassen. Auf Einwendungen Gerlachs hin habe Weismann gesagt, die Regierung wolle von Krieg und Rüstungen gewiß nichts wissen, aber es erscheine ihr wohl nicht unzweckmäßig, wenn man im Auslande an solche Möglichkeiten denke. Als Herr v. Gerlach von diesem Gedanken ablenkte, habe Weismann gemeint, daß er diese Auffassung auch nicht teile, aber sie bestehe nun einmal bei der RReg.“ (R 43 I /510 , Bl. 155). Am 21. 2. vermerkte v. Bornstedt daraufhin für Hamm: „Herr Weismann erklärt, daß er die ihm hier zugeschriebenen Äußerungen nicht getan hat. Er habe Herrn v. Gerlach gesagt, daß die Regierung selbstverständlich nicht daran denke, Krieg zu führen, daß aber solche Plakate die nationalistischen Kreise aufregen und gerade zu Unbesonnenheiten verleiten könnten. Außerdem habe er auch auf die Wirkung im Auslande hingewiesen, daß ein Erlahmen unseres Widerstandes darin sehen könnte. Herr v. G. ist diesen Erwägungen zugänglich gewesen.“ (R 43 I /510 , Bl. 157 f.). MinR v. Bornstedt beantwortet das Schreiben Quiddes, insbesondere den Punkt v. Gerlach-Weismann in eingehender mündlicher Aussprache (Vermerk auf dem Schreiben Quiddes).

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