Text
[671] Nr. 226
Der Reichswehrminister an den Reichspräsidenten. 26. Juli 1923
R 43 I/685, Bl. 81-86 Abschrift1
[Betrifft: Kritik an der Reichswehr]
Hochgeehrter Herr Reichspräsident!
Die außerordentliche Nervosität und innerpolitische Spannung der letzten Zeit hat wiederum wie schon bei früheren Gelegenheiten eine Fülle unerfreulicher Angriffe und Hetzartikel gegen die Reichswehr gebracht, die namentlich der ganz absurden Idee Ausdruck gaben, die Reichswehr arbeite in enger Verbindung mit rechtsradikalen Organisationen, und ein von ihnen gemeinsam geplanter und vorbereiteter Rechtsputsch stünde unmittelbar bevor. Eine Zusammenstellung über einige besonders bezeichnende, ungerechtfertigte Beschuldigungen dieser Art erlaube ich mir beizufügen2; sie zeigt, wie weit wir noch von dem Zustand entfernt sind, der in allen andern Ländern der Welt als selbstverständlich gilt und seinen Ausdruck darin findet, daß die Wehrmacht der Stolz des ganzen Volkes ist und die Achtung aller Parteien genießt. Wenn im Gegensatz hierzu bei uns gerade die Blätter der größten Partei, ja selbst staatliche Behörden die verfassungsmäßige Wehr des Reiches systematisch bekämpfen, – und dies, obwohl z. B. die wochenlangen eingehenden Arbeiten des aus Mitgliedern aller Parteien zusammengesetzten Untersuchungsausschusses des Reichstages bewiesen haben, daß die Behauptungen über die angebliche Unzuverlässigkeit der Reichswehr durchaus unzutreffend sind3 –, so muß dies zu einer höchst unerwünschten Verwirrung bei den Angehörigen der Reichswehr führen und diese gegen die Kreise und Parteien aufs tiefste erbittern, von denen die ständigen Angriffe ausgehen. Ich habe kein Mittel der persönlichen und schriftlichen Fühlungnahme unversucht gelassen, um hier Abhilfe zu schaffen und zu erreichen, daß die Presse wenigstens eine wohlwollende und sachliche Kritik an der Reichswehr ausübt, eine Kritik, die nicht verletzen, sondern Schäden heilen will4. Der Erfolg war, wenn überhaupt vorhanden, nur gering;[672] trotzdem werde ich auf diesem Wege fortschreiten. Ich weiß, daß auch Sie, sehr geehrter Herr Reichspräsident, sich bei jeder Gelegenheit im gleichen Sinne einzuwirken bemüht haben, deshalb möchte ich Ihnen erneut die Bitte vortragen, wiederum Ihren großen Einfluß auf die Frage stehenden Kreise und die hauptsächlich beteiligte VSPD-Presse zur Beseitigung des für die Reichswehr sowohl wie für die Gesamtinteressen des Reichs immer unerträglicher werdenden Zustandes einzusetzen5.
Mit der Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung habe ich, hochgeehrter Herr Reichspräsident, die Ehre, zu verbleiben Ihr sehr ergebener
gez. Dr. Geßler
Fußnoten
- 1
Unter dem 31. 7. vom RWeMin. an StS Hamm gesandt.
- 2
In der beigefügten elfseitigen Zusammenstellung und weiteren 22seitigen Anlagen werden Angriffe auf die Reichswehr seitens der Polizeipräs. von Leipzig und Stettin, der thüring. Reg. und des sächs. Polizeiobersten Schützinger sowie von seiten verschiedener Presseorgane, insbesondere sozialdemokratischer Richtung, dargestellt und mit Stellungnahmen des RWeMin. versehen.
- 3
Der Bericht des 40. RT-Ausschusses, der verschiedene Vorwürfe gegen die Reichswehr aus dem Jahr 1922 untersucht und dabei in allen Fällen das Verhalten des RWeM gebilligt hatte, war dem RT am 19.2.23 als RT-Drucks. Nr. 5556, Bd. 376, vorgelegt worden.
- 4
So hatte sich Geßler u. a. auch an seinen Parteifreund Quidde gewandt mit der Bitte, auf die ihm nahestehenden pazifistischen Kreise und ihre Presse mäßigend einzuwirken. Quidde antwortet darauf in einem ausführlichen Brief vom 31. 7. u. a.: „Wir sind vollständig von Ihrer aufrichtigen republikanischen Gesinnung und von Ihrem guten Willen, die Verfassung mit allen Mitteln zu schützen, überzeugt. Das gilt, soviel ich weiß, auch für Herrn v. Gerlach [über den Geßler sich beklagt hatte]. Aber wir werden die bange Frage nicht los, ob im entscheidenden Moment Sie über die Reichswehr werden verfügen können. Skeptiker gehen weiter und behaupten, es sei lächerlich, daran zu denken; gegenüber einer ernsthaften Erhebung der Rechtsrevolutionäre werde der größte Teil der Reichswehr mit fliegenden Fahnen ins Lager der Rechten übergehen. Wie es im Reiche im allgemeinen bestellt ist, weiß ich nicht, aber hier in Bayern, speziell in München, habe ich niemanden, buchstäblich niemanden, einschließlich der Minister, gefunden, der für den Fall einer Erhebung der Nationalsozialisten Vertrauen auf die Reichswehr gehabt hätte.“ (Nachlaß Geßler im BA, Nr. 9: Einzelne Schreiben an Geßler). Sehr skeptisch über die Zuverlässigkeit der Reichswehr äußert sich auch Stresemann in einer Denkschrift über die politischen Verhältnisse in Deutschland, die er am 23. 7. dem Kronprinzen übersendet: „Geßlers Auffassung über die unbedingte Zuverlässigkeit der Reichswehr gegenüber dem heutigen Staat erscheint mir als unberechtigter Optimismus angesichts der Stimmung der Reichswehroffiziere und ihrer Mannschaft. Für die Regierung und für die Verfassung würden voraussichtlich nur die etwa organisierten sozialistischen Hundertschaften und die Sipo in Preußen sicher eintreten.“ (Nachlaß Stresemann Bd. 262, Film 3099).
- 5
Am 27. 7. richtet der ‚Vorwärts‘ in seinem Artikel „Reichswehr und Republik“ neue Angriffe gegen die Reichswehr, auf die der RWeM am 31. 7. in der Presse mit einer längeren Erklärung antwortet, in der es u. a. heißt: „Die vom ‚Vorwärts‘ in seinen Ausführungen vorausgeschickte Anzweifelung der vorbehaltlosen Verfassungstreue der Reichswehr kann und muß ich zurückweisen. Ich verbürge mich in der Tat für den unbedingten Gehorsam der Wehrmacht gegenüber jeder verfassungsmäßigen Reichsregierung.“ (Erklärung Geßlers in der ‚Vossischen Zeitung‘ vom 31. 7. im Ausschnitt in R 43 I/685, Bl. 78).