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[692] Nr. 232
Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften. 30. Juli 1923, 18 Uhr1
Anwesend: Cuno, Becker, Luther; StS Hamm, Zapf, Geib; ORegR Düring, Offermann (als Protokollführer); RbkPräs. v. Havenstein, RbkDir. Dreyse, OFinR Kauffmann; vom Gewerkschaftsring: Lemmer2, Gustav Schneider, Scaruppe; vom DGB: Roth, Baltrusch; vom Deutschen Beamtenbund: Remmers; vom Allgemeinen Deutschen Beamtenbund: Falkenberg, Völter; vom ADGB: Knoll, Leipart; vom AFA: Süß, Heinig.
Reichskanzler Dr. Cuno eröffnete die Sitzung und führte aus, daß es ihm ein Bedürfnis gewesen sei, in dieser ernsten Stunde mit den Vertretern der Gewerkschaft zusammenzukommen. Es komme auf praktische Mittel an, wie der Notlage abgeholfen werden könne. In einem Überblick über die politische Lage stellt der Kanzler fest, daß trotz aller Schwierigkeiten der Geist der Bevölkerung an Ruhr und Rhein und ihr spontaner Abwehrwille ungebrochen sei und daß uns daraus die Verpflichtung und die Sorge erwachse, alles zu tun, um über diese schwere Zeit hinwegzuhelfen. Die Wirtschaft müsse in Gang gehalten, Arbeitslosigkeit vermieden werden. Auch für ausreichende Ernährung müsse gesorgt und die Teuerung eingedämmt werden. Ferner müsse dem Volk ein wertbeständiges Anlagemittel gegeben werden. Die Kosten der Ruhraktion völlig abzudecken, sei Pflicht und werde durch Steuererhebungen, die noch im Laufe des nächsten Monats zu vollziehen sein werden, herbeigeführt werden müssen. Auch gegen den Luxus werde vorgegangen werden.
Baltrusch führt aus, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund bereits im Februar Vorschläge ausgearbeitet habe3 und seit längerer Zeit auch eine Denkschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Arbeit gewesen sei. Diese Denkschrift habe er gestern der Reichskanzlei überreicht4. Verhandlungen mit den Gewerkschaften hätten heute morgen ergeben, daß die Ansichten der einzelnen Gewerkschaften sich genähert hätten, so daß man auf Seite der Gewerkschaften ein ziemlich einheitliches Programm aufstellen könne.
[693] Leipart: Die Arbeiter erhoffen von den Gewerkschaften die Herbeiführung einer Besserung der Lage. Die Gewerkschaften beabsichtigen nicht, der Regierung die Verantwortung abzunehmen, sie wollten aber Einfluß auf die Maßnahmen der Regierung in ihrem Sinne gewinnen. Das Vertrauen zu den Gewerkschaftsführern sowohl wie zu der Regierung sei im Volke im Schwinden begriffen, und daraus ergab sich das Bedürfnis, wie auch schon bei früheren ähnlichen Anlässen, sich mit der Regierung auszusprechen. Es seien Klagen aus dem Ruhrgebiet eingelaufen über das provozierende Auftreten der Nationalisten; hier müsse die Regierung einzugreifen suchen. Die Ernährungsschwierigkeiten seien nicht nur eine Folge der verspäteten Ernte, sondern die Landwirtschaft halte die Lebensmittel zurück, und dagegen richte sich der riesengroße Zorn der Arbeitermassen. Man habe Kartoffeln ausgeführt und auch an Brennereien abgegeben, und dadurch habe man die Kartoffelnot verstärkt. Die Hauptursache der jetzigen Notlage sei aber die Geldentwertung. Die bisherigen Maßnahmen der Regierung könnten nicht als ausreichend zur Bekämpfung dieses Übels angesehen werden.
Knoll trug sodann die Vorschläge der Gewerkschaften vor und erläuterte sie in einigen Worten; die Vorschläge sind in Anlage 1) enthalten5.
[694] Baltrusch nahm dann Bezug auf seine in Anlage 2) enthaltenen Vorschläge6.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Dr. Luther führt aus, daß keine Speisekartoffeln ausgeführt worden seien, dagegen wohl Saatkartoffeln. Diese Ausfuhr habe dem Reich Devisen gebracht, die man zu anderen Zwecken dringlichst benötigt habe. Die Kartoffelernte von 1922 habe 406 Millionen Doppelzentner betragen, davon seien etwa 12/13 Millionen Doppelzentner an Brennereien abgegeben worden, – also eine verhältnismäßig geringfügige Menge, die man hätte verbrennen müssen, um einerseits den unbedingt erforderlichen technischen Spiritus, anderseits die ebenso notwendige Schlempe zu erhalten.
Staatssekretär Zapf erläutert die bisherigen steuerlichen Maßnahmen des Reichsfinanzministeriums und gab auch über die neuen Pläne eingehende Auskunft7.
Exzellenz von Havenstein legte die bisherige und auch zukünftige Politik der Reichsbank dar.
Der Reichskanzler schloß mit dem Danke an die Gewerkschaften und dem Wunsche, daß die Gewerkschaften auch weiterhin in dieser schweren Zeit enge Fühlung mit der Reichsregierung halten möchten8.
Fußnoten
- 1
Für die erste Seite des Protokolls ist das vorgedruckte Deckblatt für Kabinettsprotokolle benutzt worden; daher trägt das Dokument auch die irreführende Überschrift „Niederschrift über die Sitzung des Reichsministeriums vom 30. Juli 1923 nachmittags 6 Uhr im Reichskanzlerhause.“
- 2
In der Vorlage fälschlich: Semmer.
- 3
Schreiben des DGB an den RK vom 7.2.23, abgedruckt als Dok. Nr. 68.
- 4
Die Übergabe der DGB-Denkschrift war am 29. 7. erfolgt, weil der ADGB, dem die Rkei lt. Vermerk Hamms den Wunsch des RK nach einer Besprechung der Wirtschaftslage am 25. 7. übermittelt hatte (R 43 I/1134, Bl. 151-154, 103), eine eigene Denkschrift an die Rkei gegeben hatte. Lt. Vermerk Offermanns teilte Baltrusch am 29. 7. mit: „Er habe Kenntnis von dem Schritt des ADGB und auch von dem Inhalt der Vorschläge. Er sei der Auffassung, daß der ADGB hier nicht loyal vorgehe. Es habe den Anschein, als ob hier eine Übertölpelung der anderen Gewerkschaften geplant sei. Der richtige Weg wäre gewesen, sich zuerst mit den übrigen Gewerkschaften zu verständigen und dann erst an die Regierung heranzutreten. Die Vorschläge des ADGB seien für den DGB nicht annehmbar. Sie seien insbesondere geeignet, die Lage zu erschweren. […] Herr Baltrusch teilte sodann folgendes mit: Der Vorstand habe beschlossen, in der Frage noch heute eine schriftliche Eingabe an die RReg. zu richten, die Herr Baltrusch heute nachmittag 4 Uhr persönlich in der Rkei dem diensttuenden Referenten überbringen werde. In dieser Eingabe werde auch zu den Vorschlägen des ADGB Stellung genommen werden. Die übrigen Gewerkschaften würden Abschriften gleichzeitig erhalten. Außerdem würde die Eingabe eigene Vorschläge umfassen, die von den Vorschlägen des ADGB wesentlich abweichen würden, insbesondere was die Frage der aktiven und der passiven Handelsbilanz betreffe. Der DGB habe dann noch die Bitte an die RReg., den ADGB nicht allein oder mit dieser oder jener Gewerkschaft gemeinsam zu empfangen, sondern, wenn irgendmöglich, die Frage mit allen Gewerkschaften und den deutschen Beamtenbünden (auch Deutschen Beamtenbund) zu besprechen. Die RReg. werde daher gebeten, noch heute Einladungen an sämtliche Organisationen zu erlassen. Dabei betonte Herr Baltrusch, daß die Vorschläge des DGB sich im allgemeinen mit den Regierungsmaßnahmen decken würden, und daß es feste Absicht des DGB sei, der Regierung in jeder Weise behilflich zu sein. Herr Baltrusch bat noch, darauf hinzuwirken, daß der ADGB seine Vorschläge in der Presse noch nicht verwerte, jedenfalls nicht, bevor die Besprechung mit der RReg. stattgefunden habe.“ (R 43 I/1134, Bl. 104).
- 5
Die Vorschläge des ADGB sind in einem von Leipart gezeichneten dreiseitigen Schreiben vom 31. 7. enthalten. Ein Durchschlag, ohne Datum und Unterschrift, trägt den Vermerk Cunos: „von Herrn Knoll erhalten. C. 30. 7.“ Darin wird in der Steuerpolitik die Valorisierung aller Steuern sowie ihre umgehende Entrichtung gefordert. Die Deckung der Staatslasten auf längere Sicht wird vorgeschlagen „a) durch sofortige Erhebung einer Goldmarksteuer auf jeden Hektar land- und forstwirtschaftlich genutzten Bodens mit Ausnahme der Kleinbetriebe; später wäre nach der Besitzgröße zu staffeln; b) durch eine gleichartige Goldmarksteuer für die Betriebe von Gewerbe, Industrie, Handel und Bankwesen, vorerst umzulegen nach Art der Berufsgenossenschaftsbeiträge; c) eine wertbeständige Vermögenssteuer. Auf diese Steuern gestützt, ist eine innere Goldanleihe auszugeben, und zwar in der Höhe, daß sie das nach Durchführung obiger Vorschläge noch verbleibende Etatsdefizit deckt. Um die Anleihe allen Bevölkerungsschichten zugängig zu machen, haben die Sparkassen wertbeständige Sparkonten aufgrund dieser Anleihe einzurichten.“ Zur Währungspolitik wird gefordert: „Das Gesetz über die Autonomie der Rbk ist dahingehend umzuändern, daß das absolute Selbstbestimmungsrecht ihrer Leitung beschränkt wird. Ihre bisherige Kredit- und Zinspolitik, die nachgewiesenermaßen einen Anreiz zur Spekulation gegen die Mark darstellte, ist sofort aufzuheben. Die Rbk hat künftighin nur mehr Kredite gegen wertbeständige Rückzahlung und Verzinsung auszugeben. Zur Unterstützung der Reichsfinanzen ist ein starker Reservefonds an ausländischen Zahlungsmitteln anzulegen. Solche sind aus allen denjenigen Wirtschaftsbetrieben, welche für ihren Geschäftsbetrieb Auslandszahlungsmittel nicht brauchen, durch energisches gesetzgeberisches und verwaltungsmäßiges Vorgehen herauszuholen. […] Die neuerdings gewährte Erlaubnis zur Devisenzahlung zwischen Groß- und Kleinhandel in Inlandsgeschäften ist sofort zurückzuziehen. Strengste Kontrolle der Abgabe der aus dem Export entfallenden Devisen, insbesondere auch durch treuhänderische Untersuchungen bei ablieferungspflichtigen Unternehmungen.“ (R 43 I/1134, Bl. 155 f.).
- 6
Die Vorschläge des DGB sind in einem siebenseitigen Schreiben vom 29. 7. dargelegt. Nach einem Hinweis auf bisherige Versäumnisse und Fehler in der Steuer- und Kreditpolitik wird währungspolitisch die Einführung wertbeständiger Kredite, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Rbk und Außenhandelsstellen sowie die Auflegung einer wertbeständigen Anleihe gefordert, die durch wertbeständige Steuern zu sichern ist und die Einrichtung wertbeständiger Sparkonten ermöglicht. Von der staatlichen Finanzpolitik wird gefordert: Beschleunigte Vereinfachung der Verwaltung, für die Dauer des Ruhrkampfes monatliche Erhebung der Zwangsanleihe als wertbeständige Vermögenssteuer, Anpassung der Einkommensteuervorauszahlungen an die Geldentwertung, Verpflichtung der Handels- und Industrieunternehmen zur Aufstellung von Goldbilanzen, Erhebung der Umsatz-, Luxus- und Kohlensteuer in 14tägigen Fristen, Neuveranlagung der Erbschafts- und Vermögenssteuer auf wertbeständiger Grundlage, Aufwertung und Vereinfachung der Verbrauchssteuern, Heraufsetzung der Ausfuhrabgabe für die konkurrenzfähigen Industrien. Als wirtschaftliche Maßnahmen sieht das Programm vor: Bevorzugte Devisenzuteilungen für Lebensmitteleinfuhren, Verbilligung des Hausbrandes, Ausbau der produktiven Erwerbslosenunterstützung, Enteignung von Moor- und Ödland zur Förderung landwirtschaftlicher Siedlung. Sozialpolitisch wird gefordert, die Löhne, Gehälter und die gesamte Sozialversicherung wertbeständig auszurichten (R 43 I/1134).
- 8
Ursprünglich folgte noch: „Für die Presse wurde die in Anlage 3) enthaltene Notiz verfaßt.“ Dieser Satz ist gestrichen worden. Eine entsprechende Pressenotiz fehlt in den Akten, doch berichtete die Presse über diese Besprechung in einer offenbar autorisierten Notiz.
Am 6. 8. übersendet der Deutsche Beamtenbund (DBB) dem RK eine zwölfseitige Denkschrift zur Finanz- und Wirtschaftsreform, in der festgestellt wird, „daß die Besprechung der RReg. mit den gewerkschaftlichen Spitzenverbänden am Abend des 30. Juli und die seither angekündigten gesetzgeberischen Maßnahmen die erhoffte beruhigende Einwirkung auf die Stimmung der vom DBB vertretenen Kreise nicht zur Folge gehabt haben.“ (R 43 I/2436, Bl. 50-55). Grävell vermerkt über den Inhalt des Schreibens am 10. 8.: „Der Grundgedanke des Vorschlages des DBB zur Stabilisierung der Währung ist, den Grundsatz der Garantie für die geplante wertbeständige Anleihe sinngemäß auf die Aufgabe, die deutsche Währung zu stabilisieren, zu übertragen. Es wird sich dabei um eine solidarische Haftung von Industrie, Handel und Landwirtschaft handeln, die ihren sichtbaren Ausdruck in einer Garantie-Gemeinschaft finden wird. […] Der Grundgedanke der Eingabe, daß die Wirtschaft aus sich selbst heraus zur Gesundung kommen muß und dazu alle Aktiven zur Verfügung zu stellen hat, erscheint mir einzig richtig und ist auch heute in der Sitzung des Steuerausschusses des RT zum Ausdruck gebracht worden. Daselbst wurde ausgeführt, daß es sich bei den derzeitigen Steuermaßnahmen und der Auflage der wertbeständigen Anleihe nur um den ersten Schritt einer grundsätzlichen Währungsreform handeln könne, die auf der Wirtschaft als solcher als Grundlage im unmittelbaren Anschluß daran ausgebaut werden müsse. Dabei wurde seitens der DVP der Gedanke zur Debatte gestellt, von Industrie, Handel und Landwirtschaft eine Naturalabgabe, die die Grundlage für die Einführung wertbeständigen Geldes abgeben könnte, zu erheben.“ (R 43 I/2436).