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Restitution des Films "Europa"

Das Meisterstück des avantgardistischen Films von Stefan und Franciszka Themerson (1931/32) wurde 80 Jahre nach seiner Beschlagnahmung in Paris an die Erbin der Themersons zurückgegeben.

16.09.2021

Film

Öffentlichkeitsarbeit

Internationale Zusammenarbeit

Standbild des Filmtitels

Die Commission for Looted Art in Europe als Vertreterin der Erbin Jasia Reichardt und das Bundesarchiv freuen sich, die Restitution des in den Jahren 1931/32 entstandenen Films Europa von Stefan und Franciszka Themerson bekanntzugeben.

Die Themersons waren polnische Künstler, die sich 1930 in Warschau kennenlernten und eine lebenslange Zusammenarbeit als Schriftsteller, Illustratoren, Verleger und avantgardistische Filmemacher begannen. Europa war ihr zweiter Film und der erste Avantgarde-Film von Bedeutung, der in Polen gedreht wurde – eine Stummfilm-Interpretation von Anatol Sterns futuristischem Gedicht gleichen Namens und eines der herausragendsten Beispiele des europäischen Avantgarde-Film dieser Zeit überhaupt.

Die Themersons zogen 1938 nach Paris und nahmen jeweils eine Kopie ihrer beiden Filme mit sich. Bei Kriegsausbruch im September 1939 meldeten sich Franciszka und Stefan Themerson als Freiwillige zur polnischen Armee. Bevor sie im Mai 1940 Paris verließen, um sich in Rennes der polnischen Armee anzuschließen, übergab Stefan Themerson Kopien ihrer insgesamt fünf Filme Stanislaw Witkiewicz beim Vitfer Kopierwerk in Paris zur Verwahrung.

Franciszka erreichte mit der polnischen Exilregierung im Juni 1940 London; Stefan folgte über Lissabon im Jahr 1942. Später lebte das Paar in West-London, wo es auch den Rest seines Lebens verbrachte. Viele Familienmitglieder jedoch wurden Opfer des Holocaust.

Nach dem Krieg erfuhr Stefan von Stanislaw Witkiewicz, dass alle in Paris zurückgelassenen Filme von den Deutschen beschlagnahmt worden waren. In einem Brief vom 25. Februar 1959 an Anatol Sterns Witwe schrieb er: "Es ist nahezu sicher, dass Europa (der Film) nicht mehr existiert – soweit ich weiß, lag das Negativ in der Królewska-Straße in Warschau in einem Haus, das niederbrannte. Eine einzige Kopie von Europa (und meiner anderen Filme) lag in Paris, in Witkiewiczs Vitfer-Kopierwerk. Ich habe Witkiewicz nach dem Krieg in London getroffen. Er erzählte mir, dass alle Filme von den Deutschen aus seinem Werk beschlagnahmt worden seien, aber bald nach dieser Unterhaltung ist er gestorben, und das ist alles, was ich weiß."

In London drehten Franciszka und Stefan zwei weitere Filme, und jeder von ihnen setzte seine eigene Arbeit fort: Franciszka malte, zeichnete und gestaltete für das Theater und für den Druck, Stefan schrieb Romane, Gedichte und Essays. Im Jahr 1948 gründeten sie ihren Verlag Gaberbocchus Press und veröffentlichten 1962 eine englische Übersetzung von Anatol Sterns Europa, wobei sie den Originalentwurf von Mieczysław Szczuka und Teresa Żarnower aus dem Jahr 1929 verwendeten. Das Buch erhielt ein Vorwort von Oswell Blakeston und eine Einleitung von Michael Horovitz, und das Gedicht wurde ergänzt durch erhaltene Standfotos des Films und zeitgenössische Besprechungen aus den frühen dreißiger Jahren. Im Jahr 1983 schuf Stefan anhand dieser erhaltenen Standfotos und gemeinsam mit der London Film-Makers‘ Co-op eine neunminütige Dia-Rekonstruktion des Films mit Tonspur.

Franciszka und Stefan starben beide im Jahr 1988 – sie glaubten bis zuletzt, dass Europa nicht überlebt habe. Erst im Jahr 2019 erfuhr ihre Nichte und Erbin Jasia Reichardt durch das Pilecki-Institut, dass sich eine Kopie von Europa im Bundesarchiv befinden könnte.

Im Februar 2020 nahm der Vertreter der Erben, Robert Devcic, Kontakt zur Commission for Looted Art in Europe auf und bat sie um Unterstützung bei der Identifizierung und Sicherstellung des Films sowie bei den Verhandlungen um seine Rückgabe mit dem Bundesarchiv. Die Commission bekam die Mitteilung, dass Europa nach seiner Beschlagnahmung in Paris ins Reichsfilmarchiv nach Berlin gelangt war und um 1959 zum Bestand des Staatlichen Filmarchivs der DDR gehörte. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde das Staatliche Filmarchiv Teil des Bundesarchivs, wo sich der Film seither befand. Die Commission brachte in Erfahrung, dass sich sogar zwei Kopien des Films im Bundesarchiv befanden: Die 35mm-Cellulosenitrat-Kopie, die 1940 in den Vitfer-Kopierwerken zurückgelassen worden war, und eine spätere Kopie, die das Bundesarchiv anlässlich einer Vorführung in Berlin zum UNESCO-Welttag des audiovisuellen Erbes im Jahr 2015 angefertigt hatte. Beide Kopien wurden nun nach Großbritannien zurückgebracht und von Frau Reichardt dem Britischen Filmarchiv gestiftet. Nach der englischen Premiere des Films auf dem 65. BFI LONDON FILM FESTIVAL wird Europa noch in diesem Jahr eine Reihe von internationalen Ausstrahlungen erfahren.

Er war der Liebling der Themersons und Polens wichtigster Avantgarde-Film. Wer hätte sich vorstellen können, dass er in ihrem Schlafzimmer entstanden ist, in der Wohnung von Franciszkas Eltern, wo sie 1931/32 lebten. Ein Kollege besuchte sie dort und berichtete mir, sie hätten auf zwei Tischen Pflastersteine gestapelt und wochenlang das Gras zwischen ihnen gezüchtet, das im Wachsen die Konstruktion aufbrechen und zerstören würde. Das ist das Schlüsselbild des Films, die Tragödie Europas, das sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbraucht und schließlich zerstört.

(Jasia Reichardt, Erbin der Themersons)

Wir sind sehr glücklich, dass wir die Restitution dieses außergewöhnlichen Kunstwerks erreicht haben. Es war so lange verschollen, aber jetzt ist es weltweit zugänglich und kann vom Publikum gewürdigt werden. Wir sind dem Bundesarchiv für all sein Entgegenkommen dankbar und hoffen, dass das nur der erste von den Nazis geraubte Film sein wird, der jetzt aufgefunden und zurückgegeben wird.

(Anne Webber, Co-Vorsitzende der Commission for Looted Art in Europe)

Das Bundesarchiv legt größten Wert darauf, seinen Bestand von mehr als einer Million Filmrollen mit mehr als 160.000 Filmtiteln bestmöglich zu sichern und zu bewahren. Aber in einigen wenigen Fällen müssen wir erkennen, dass sich ein Film nicht dort befindet, wo er hingehört. Wir begrüßen es sehr, dass die Rückgabe von Europa zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen ist und wünschen dem Film ein interessiertes Publikum.

(Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs)

Über Europa

Im Jahr 1925 veröffentlichte die Zeitschrift Reflektor Anatol Sterns futuristisches Gedicht Europa über soziale Krisen, den Verlust der Moral und Europa am Abgrund. Stern beschrieb es als "meine nüchterne Chronik der Tragödie, des Elends, der Weisheit und der Verruchtheit Europas". Im Jahr 1929 erschien es als Buch, gestaltet von den beiden Avantgarde-Künstlern Mieczysław Szczuka und Teresa Żarnower. Inspiriert von dem Gedicht schufen Stefan und Franciszka Themerson einen zehnminütigen schwarz-weiß Stummfilm in ihrem Warschauer Schlafzimmer in der Królewska-Straße, wobei sie die Worte in belebte Bilder aus Photogrammen und Kollagen umsetzten. Auf der Leinwand waren sie ebenso gefühlsgeladen wie das Gedicht auf den Seiten des Buches.

Stefan und Franciszka Themerson

Zwischen 1930 und 1937 schufen Stefan und Franciszka Themerson fünf Filme in Polen (Apteka, Europa, Drobiazg Melodyjny, Zwarcie, Przygoda Czlowieka Poczciwego). Zwischen 1942 und 1944 drehten sie für die Abteilung Film der polnischen Exilregierung zwei weitere Filme in England: Calling Mr. Smith und The Eye and the Ear. Die übrigen vier Filme, die 1940 in Paris beschlagnahmt wurden, sind noch verschollen.

Der Nachlass Themerson

Seit dem Tod von Stefan und Franciszka Themerson im Jahr 1988 wurde der Nachlass von Jasia Reichardt und Nick Wadley verwaltet; im Jahr 2019 erschien die Monographie "Franciszka Themerson" von Nick Wadley. In Zusammenarbeit mit MIT Press veröffentlichten die Erben einen dreibändigen Katalog des Themerson-Archivs, das sich in der Nationalbibliothek in Warschau befindet.

Die Commission for Looted Art in Europe

Die Commission for Looted Art in Europe (CLAE) ist eine internationale, sachverständige, nicht-gewinnorientierte Vertretungskörperschaft, die 1999 in London gegründet wurde. Sie verhandelt Richtlinien und Maßnahmen mit Regierungen und Kultureinrichtungen und fördert die Identifizierung geraubter Kulturgüter sowie das Auffinden ihrer rechtmäßigen Besitzer. Sie vertritt Familien auf der ganzen Welt, um deren geraubte Kunstwerke ausfindig zu machen und zu retten, und hat in mehr als 3500 Fällen die Rückgabe kulturellen Eigentums erreicht. Sie unterhält auch ein Zentralregister zu Informationen über kulturelles Eigentum, das zwischen 1933 und 1945 geraubt wurde.

Weitere Informationen erhalten Sie bei:
Commission for Looted Art in Europe
76 Gloucester Place
London W1U 6HJ
Email: info@lootedartcommission.com
Tel.: +44 (0) 20 7487 3401
(auch zu Bildern und Standfotos aus Europa)